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Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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Professor Asher sich beim Britischen Roten Kreuz gemeldet hat«, berichtete ich.
    »Das ist ausgeschlossen«, sagte sie.
    »Die nehmen da Leute in jedem Alter«, erklärte ich. »Das ist selbstverständlich eine sehr mutige Geste von ihm. Ich könnte mir denken, er versucht damit auf eine etwas merkwürdige Weise, sein Vergehen wiedergutzumachen. Bei den Sanitätern beträgt die Rate der Todesfälle nahezu siebzig Prozent. Wußtest du, daß Asher Pazifist ist?«
    Etnas Augen hatten rote Ränder. Nicht vom Weinen, vermutete ich (sie schien ja wie ausgetrocknet), sondern infolge von Unterernährung. Sie war beinahe nur noch ein Skelett unter ihren selbstgenähten Kleidern.
    »Phillip ist in Frankreich«, wiederholte Etna.
    »In den Argonnen.«
    »Heißt das, daß er für immer fort ist?«
    Ich zuckte zusammen und drehte mich herum. Hinter mir an der Tür stand Clara.
    »Heißt das, daß er für immer fort ist?« fragte sie noch einmal.
    Mit einer silbernen Haarbürste in der Hand kam sie heraus. Ihr Haar war ungewaschen, und ihre weißen Strümpfe waren schmutzig. Sie blickte von mir zu ihrer Mutter, dann wieder zu mir. »Professor Asher ist fort?« fragte sie zum drittenmal.
    Ich witterte Gefahr und stand auf. »Clara, deine Mutter und ich unterhalten sich unter vier Augen«, sagte ich. »Du mußt endlich lernen, nicht immer dazwischenzureden.«
    »Ist er weit weg?« fragte Clara, als hätte sie meine Zurechtweisung nicht gehört.
    »Ja, sehr weit weg«, antwortete ich. »Komm, wir wollen mal nach deinem Bruder sehen«, fügte ich hinzu und näherte mich ihr.
    »Dann kann ich’s jetzt sagen?« fragte Clara.
    Ich hielt den Atem an, während ich wartete und hoffte, der Moment möge ohne Zwischenfall vorübergehen. Clara sah mir mit ihren hellblauen Augen direkt ins Gesicht, und in dem Moment wurde mir klar, daß ihre Frage nicht in Unschuld gestellt war. War es Bosheit, die langen Stunden des Nichtstuns entsprungen war? Ein Mittel, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Wollte sie ein schlechtes Gewissen beruhigen? Oder, schlimmer, war diese Hinterlist gegen mich gerichtet?
    »Ob du was sagen kannst?« fragte Etna.
    »Halt den Mund!« zischte ich Clara an und gab meinem kaum vernehmbaren Befehl einen unmißverständlichen Unterton der Drohung mit.
    »Ob du was sagen kannst?« fragte Etna wieder. Sie stand aus dem grünen Korbsessel auf. »Nicholas, was hat das alles zu bedeuten?«
    »Nichts.« Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Gar nichts. Clara, komm jetzt mit.«
    Ich wollte den Arm meiner Tochter fassen und hätte sie einfach weggezerrt, aber sie wich mir aus und ging zu ihrer Mutter.
    Ein seltsamer Ausdruck stand in Etnas Augen. Sie sah weder ihren Mann noch ihre Tochter, sie sah vielmehr eine Szene, die sie vier Monate zuvor im Salon erlebt hatte, als Clara mit ihren Fingern über ihre Brust gestrichen hatte.
    Etna schüttelte ungläubig den Kopf.
    Clara umschlang ihre Mutter, die jedoch ihre langen weißen Arme nicht um ihre Tochter legen wollte. Sie schien von einer Lähmung befallen.
    »Ich wollte es nicht«, versicherte Clara, deren nervöse Stimme zu einem dünnen Jammerlaut anstieg. »Mutter, ich dachte doch, ich könnte dich damit zurückholen.«
    Ich ahnte, daß Etna die frühere Szene im Geist vor sich ablaufen ließ. Ihre Augen richteten sich auf mich, und ich erkannte darin die Leere der Betäubung, dann das scharfe Aufblitzen des Erwachens.
    »Das konntest du tun?« sagte sie über Claras Kopf hinweg zu mir.
    »Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, gab ich zurück.
    »Du weißt es«, sagte Etna. »Ich sehe es dir an.«
    »Ich habe keine Ahnung«, sagte ich.
    »Clara, sag mir die Wahrheit«, forderte Etna und hielt ihre Tochter auf Armeslänge von sich ab. »Die volle Wahrheit.«
    Ich wandte mich ab, bevor die Wahrheit gebeichtet wurde. Ich ging ins Haus und begab mich in mein Arbeitszimmer.
    Was spielt es jetzt noch für eine Rolle? dachte ich, als ich die Tür hinter mir schloß. Die Mutter würde die Familie niemals verlassen. Sie würde sich dem Glück ihrer Kinder opfern.
    Ich hatte gesiegt. Ich hatte Etna. Ich hatte die Kinder. Ich war Vorstand am Thrupp College.
    Warum hatte ich dann solche Angst?
    Etna stürmte ins Gästezimmer und knallte die Tür so heftig zu, daß die Wände zitterten. Im Laufe des Nachmittags vernahmen wir von Zeit zu Zeit plötzliche Ausbrüche der Ungläubigkeit – schrill und atemlos, als hörte sie die Wahrheit immer wieder von neuem. Clara hatte sich in ihr Zimmer
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