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Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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verkrochen, und Nicky wich Abigail nicht von der Seite. Einmal sah ich ihn vorbeigehen, er hielt sich die Ohren zu, um nicht die gewaltsamen Eruptionen hinter der Tür des Gästezimmers hören zu müssen. Ich selbst blieb in meinem Arbeitszimmer, wo ich mich mit Sherry und Brandy aufrecht hielt. Ich trank, ich setzte mich, ich stand wieder auf, ich lief umher, ich setzte mich wieder, ich trank, und manchmal machten mir die periodischen Schreie von oben genausosehr angst wie Nicky.
    Es war nur ein Gewitter, das vorbeiziehen würde, sagte ich mir. Kein Mensch konnte auf die Dauer derart heftige Anfälle aushalten. Abigail kam, aber ich schickte sie mit herrischer Geste wieder weg. Ich weiß nicht, ob ihre Fürsorge mir galt, der ich mittlerweile stark angetrunken war, oder ihrer Herrin, deren Leiden ich mir nur vorstellen konnte. Quälte Etna sich mit Gedanken daran, welch schweres Unrecht ihre Familie Phillip Asher angetan hatte (wie zum Ausgleich für früheres Unrecht, könnte man fast meinen); daß sie es abgelehnt hatte, den Mann auch nur anzuhören; daß er in Schimpf und Schande fortgegangen und nun in Europa in Lebensgefahr war? Fürchtete sie, die Intrigen ihres Mannes und ihrer Tochter könnten zum Tod dieses sanftmütigen Gelehrten führen, der mindestens ihr Freund war? Den sie eines Tages vielleicht geliebt hätte? Wem gab Etna die Schuld? Mir, weil ich den Plan entworfen hatte? Ihrer lügnerischen Tochter, die sich vielleicht nie davon erholen würde, so jung noch einem anderen so schweren Schaden zugefügt zu haben (und wenn es den Mann nur seine berufliche Stellung gekostet hätte!)? Oder sich selbst, weil sie mit ihrem unnatürlichen Freiheitsdrang mich zu unnatürlichem Verhalten verleitet hatte?
    Oder sah Etna ihre Schuld noch viel tiefer in der Vergangenheit, führte sie vielleicht auf den Tag zurück, an dem sie in Exeter im Staat New Hampshire in einem Raum mit ungetünchten Wänden gestanden und dem Mitleid die Oberhand über die Einsicht gelassen hatte? Oder dachte meine Frau, wie ich das von Zeit zu Zeit getan hatte, über die geheimnisvolle Verbindung zwischen äußeren Umständen und Schicksal nach? Was, wenn sie am Abend des Hotelbrands mein Hilfsangebot ausgeschlagen hätte? Was, wenn sie und ihre Tante an dem Abend nicht beschlossen hätten, im Hotel zu speisen, sondern zu Hause geblieben wären? Man konnte auf diese Weise ein ganzes Leben aufdröseln bis zum ersten bewußten Gedanken.
    Der düstere Nachmittag wich einem bedrückenden Abend. Die Schmerzausbrüche ließen nach, und Nicky nahm die Hände von den Ohren. Clara kam aus ihrem Zimmer, weil sie hungrig war. Ich fand meine Kinder in der Küche, wo sie am weißen Emailtisch saßen und Pastete aßen. Clara stand mit vollem Mund auf und ging wortlos hinaus, bevor ich dazu kam, etwas zu sagen. Aber ich hatte sowieso keine langen Reden führen wollen. Abigail kam, von mir gerufen, und nahm den schläfrigen Nicky hoch, um ihn zu Bett zu bringen. Ich blieb in der Küche zurück, suchte nach Brandy und ging, als ich keinen fand, zur Hintertür in den Garten hinaus.
    Ich legte mein Jackett ab und blickte, in Hemdsärmeln und Hosenträgern dastehend, zum Himmel hinauf, der an diesem Abend so bewölkt war, daß man keine Sterne sah. Rundherum stimmten zirpend und raspelnd die Insekten ihre Instrumente zum Abendkonzert. Das Hemd klebte mir am Körper, und die Abendluft brachte keine Abkühlung. Wir hatten eine Hitzewelle von außergewöhnlichen Temperaturen; ich konnte mich nicht erinnern, wann das Thermometer das letztemal unter zweiunddreißig Grad Celsius gefallen wäre.
    Ich ging zum hintersten Ende des Gartens und schaute von dort aus zum Haus zurück, in dem die heillos zerrüttete Familie Van Tassel lebte. Ich sah in Nickys Zimmer das Licht ausgehen, dann in Claras. Gleich darauf sah ich im zweiten Stock eine Lampe angehen. (An die Hitze in den Personalzimmern wollte man lieber nicht denken.) Auch dieses Licht erlosch bald wieder. Schließlich brannten nur noch die Lampen in meinem Arbeitszimmer, die ich versehentlich angelassen hatte, und die im Gästezimmer.
    Ich hielt nach einem Zeichen von Etna Ausschau, einem Schatten, der sich hinter dem Spitzenvorhang bewegte, aber ich sah nichts. Ich kletterte auf eine Steinmauer, um besser zu sehen, konnte aber nur die weiße Kommode mit ihrem Spiegel ausmachen. Vielleicht, dachte ich, schreibt sie gerade an Phillip Asher. Der Gedanke quälte mich, und ich schob ihn weg. Vielleicht war Etna bei
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