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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally
Autoren: Arno Geiger
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immer da bin, und ich ein Glück, dass sie immer zurückkommt, wirklich und wahrhaftig! wie schon mein Vater gesagt hat, Rufen ist leichter als Kommen, und ja, das Leben ist rätselhaft, stimmt doch? obwohl es täglich besser wird, ein klein wenig, wenn man es besser nennen will, und ich muss das alles aufschreiben, was nicht schon aufgeschrieben ist, trotz aller Nachteile mit den Schmerzen, unterm Strich ist die Freizeit, die mir der Knöchelbruch beschert, eine flotte Sache, ich führe mein Tagebuch schon, seit ich achtzehn bin, ein frühberufener Chronist, ein wankelmütiger Ministrant, der den Glauben an das göttliche Buch des Lebens verloren hat, aber den damit verbundenen Dokumentationsverlustnicht einfach geschehen lassen will, ich gebe zu, in diesem Punkt bin auch ich ein Feigling, denn ich denke mir, es wäre schade drum, jemand sollte es festhalten, am verlässlichsten, ich mache es selber, und sollte entgegen meiner Erwartung auch Er sein Register führen und sollte entgegen meiner Erwartung irgendwann zum Jüngsten Gericht geblasen werden, dann werde ich mein eigenes Kontobuch mitbringen, hundert Bände, mit hundert Bänden ist bis zu meiner Todesstunde zu rechnen, ich werde alles mitbringen, das ganze Verzeichnis der guten und schlechten Taten, ja, wenn Er sagt, Stehet auf! dann werde ich meine eigene Version der Geschichte mitbringen in einer großen Schubkarre, und wenn Er mich fragt, wie das ist, mit Sally und mir, ob ich glaube, dass wir Aussichten haben auf das Himmelreich, wo es keine Tränen mehr gibt und die letzte Träne von einem Engel getrocknet wird, dann werde ich schweigen und Ihm schweigend die hundert Bände zu Füßen legen, damit Er lesen kann, ich werde warten, und die, die hinter mir stehen, werden ebenfalls warten, und wenn Er zu Ende gelesen hat, dann werde ich sagen, jetzt, jetzt kannst du dein Urteil fällen –

 
    11
     
    Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr sind eine seltsame Zeit, ein Niemandsland, von dem nicht klar ist, ob es noch zu den stillen oder schon zu den lauten Feiertagen gehört. Weder das eine noch das andere trifft zu, es sind einfach nur Tage, die man nach Belieben füllen kann wie eine weiße Leinwand, nein, wie ein Schmierblatt, ein kleines, beschnittenes Schmierblatt, das auf der weihnachtlichen Seite fettfleckig ist und auf der Seite zum Jahreswechsel angekohlt. Und zu mehr wird es in hundert Jahren nicht reichen, zu stark wird das Wachstum dieses Zwischenreichs durch die einschnürenden Kräfte der feiertäglichen Flanken und die draußen wie mit Nadeln stechende Kälte behindert. Auch der Winter braucht seine Chance. Wann, wenn nicht jetzt?
    Vor einigen Tagen war strenger Frost eingezogen. In Jakutsk fielen die Elstern gefroren vom Himmel. Und auch in Wien häuften sich die Minusgrade an. Das meiste Leben hatte sich ins Innere der Häuser zurückgezogen, zum Glück waren Ferien.
    Kurz rührte sich etwas, Sally stellte den Christbaum vor die Tür, er fing schon an, seine Nadeln zu verlieren, Sally hatte mit ihm kein glückliches Händchen bewiesen. Außerdem flog sie am nächsten Tag nach London.
    Sie ging wieder nach drinnen, im Wohnzimmer nahm sie die Schachteln mit den Christbaumkugeln und trug siein den Dachboden hinauf. Alfred, der auf der Couch lag, schaute ihr hinterher. Dann warf er einen Blick zum Fernseher, in dem die Ereignisse des scheidenden Jahres zusammengefasst wurden. Die schnell wechselnden Bilder schienen vorwiegend ihrer emotionalen Kraft wegen ausgewählt, sie passten auf eine harte Weise zu den Tönen des Cellos, die jetzt hereindrangen, weil hinter Sally die Tür zum Stiegenhaus offen geblieben war. Im oberen Stockwerk übte Emma eine Passage aus einem Werk von Schostakowitsch. Die durchs Haus geisternden Töne klangen wie wütendes Knochenklappern.
    Als Sally vom Dachboden zurückkam, schloss sie die Tür. Die Musik war wieder ausgesperrt. Sally blickte ebenfalls zum Fernseher. Es war jedes Jahr dasselbe, dieselben Geschichten von Gewinnern, Verlierern und Toten. Man konnte nur die eine Lehre daraus ziehen, dass ungeachtet allen großartigen Fortschritts in der Welt die Leute sich weiter quälen und schinden mussten in unnütz toller Wut.
    Sally rülpste leise.
    »Ich will dir was verraten«, sagte sie herausfordernd. »Der Gips schaut ziemlich gut aus.«
    »Ja?« fragte Alfred vorsichtig.
    »So ein Gips deutet auf ein ereignisreiches Leben, selbst wenn man den ganzen Tag auf der Couch liegt oder sonst wo am Rücken. Sogar das
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