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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally
Autoren: Arno Geiger
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gemacht oder ein bestimmtes Buch gelesen habe oder mit Sally auf etwas Vergangenes zu sprechen gekommen bin, das gewaltige Arsenal an Vergangenheitsbeweisen, über das ich regiere, ich blättere über die betreffenden Seiten, mehr ist nicht nötig, um wieder zu wissen, wie etwas beim letzten Mal war, Tagebücher werden ja erst nach vielen Jahren richtig interessant, weil man irgendwann feststellt, dass man gewisse Zyklen durchläuft, bei mir sind es Vierjahreszyklen, das hat den Vorteil, dass man mit der Zeit ein Gefühl dafür bekommt, an welchem Punkt des Zyklus man steht, dann kann man im Tagebuch nachschauen, wie man sich bei anderer Gelegenheit verhalten hat, das ist meine Art, Lehren aus dem ersten und zweiten und dritten Mal zu ziehen, und wenn’s beim nächsten Mal auch schlechter läuft, überraschenderweise, weil man ein Detail nicht ausreichend bedacht hat, bekommt man trotzdem ein Gefühl für Regelmäßigkeit und Kontinuität und verwechselt Krisen nicht mehr mit Katastrophen, Alfred, wie stehen die Aktien?sie sind unterwegs, diese Erkenntnis ist sehr nützlich in einer Ehe mit Sally, und langsam wird auch bei ihr ein geheimer Rhythmus sichtbar, nur schneller mit höheren Amplituden, Ereignisse kommen in Zyklen und gehen in Zyklen und kehren schließlich zu sich selber zurück, nach einem festen Muster, ich habe Jahre gebraucht, bis ich es verstanden habe, ich kann nachblättern und den Rhythmus herausarbeiten, ich kann, ja, es ist, als würde ich es in den Taschenrechner eintippen, ich kann sagen, diesmal bleibt Sally für ein Jahr zu Hause, wurde auch Zeit, das weiß ich, ich weiß es still bei mir und bin klug genug, es zu verbergen, tief drinnen, viel tiefer drinnen, als ich an irgendeiner Stelle bereit bin, dort liegt das Wissen, dass Sally eine ganze Weile zu Hause bleibt, und auch das Wissen, dass sie nie ganz gehen wird, man muss es nicht glauben, aber es ist sichtbar , ich sehe es ziemlich gut, das ist mir wieder einmal bewusst geworden, als Sally vor einigen Tagen gefragt hat, ob sie in eines der Tagebücher reinblättern dürfe, AD 1990, ich staple gerade alles Mögliche neben der Couch, damit ich es in Reichweite habe, ich habe gedacht, sie ist also ernsthaft gewillt, wieder in meine Richtung zu schauen, normalerweise zeigt sie für meine Tagebücher keine Neugier, nur zu, habe ich gesagt, 1990 war ein gutes Jahr, Gustav ist auf die Welt gekommen, also hat Sally das Tagebuch an einer beliebigen Stelle aufgeschlagen und halblaut gelesen, ich habe mich sofort zu schämen begonnen, nur Trivialitäten, so ist es mir vorgekommen, schrecklich, ein überladener, unorganisierter, unordentlicher Geist, der ein überladenes, unorganisiertes, unordentliches Leben aufschreibt, und selbst das Haus, in dem er diese sinnlose Tätigkeitverrichtet, überladen, unorganisiert, unordentlich, und Sally hat weitergelesen, ich habe noch nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich mich unbehaglich fühle, wenn ein durchdringender Intellekt wie ihrer Dinge betrachtet, die ich ausgewählt habe, um sie festzuhalten, der Teil von mir, der bedingungslos ehrlich sein will bezüglich meiner Fehler und Schwächen, gerät zuweilen in Konflikt mit einer unreifen, egoistischen Seite an mir, die noch im Alter von siebenundfünfzig Jahren Bestätigung, Beschwichtigung und Lob verlangt, die Tagebuchseiten, die Sally aufgeschlagen hatte, waren ein Kampfplatz dieser rivalisierenden Bedürfnisse mit einem Überhang meiner schwächlichen Seite, Pech, Sally hätte genauso gut eine Seite erwischen können, auf der ich Proust zusammenfasse oder meine Ansichten über Descartes zum Besten gebe oder die Beschreibung der Situation in den Kalkalpen, stattdessen kam gleich oben das Wort Scheißdreck , gefolgt von einer sentimentalen Elegie auf einen verstorbenen Komiker, und dann, dass ich mich durch die wundersame Merlin-Trilogie von Mary Stewart gelesen habe, und wie viel Trost und Behaglichkeit mir das Verständnis für den Rhythmus des Lebens verschafft, mit dem die Autorin ans Werk geht, und ich habe zu Sally gesagt, echte und wahre Ehrlichkeit würde nie so blöd klingen oder so langatmig, wenn ich höre, was du liest, kann ich mich selber nicht mehr ernst nehmen, sie hat sich neben mich auf die Couch gesetzt und es geduldet, dass ich mit der Hand in ihren Hosenbund fahre, über den Flaum am Ansatz ihres Rückens, auf den ich so stehe, sie hat gesagt, Alfred, du hast genug Talent, um in einer verständlichen, ungeschraubten Sprache zu
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