Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally
Autoren: Arno Geiger
Vom Netzwerk:
Verlust einer intakten Oberfläche zunehmend die Nutzbarkeit der Dinge in Frage. Eine Hose musste schön sein, damit sie gut war.
    Und Sally? Die schminkte sich, damit ihr Selbstvertrauenund ihre Anziehungskraft auf Männer intakt blieben. Was gab es auf der Welt überhaupt noch Intaktes? Und was bedeutete es, dass alles Ramponierte in schlechtem Ruf stand? Manchmal, wenn Sally in den Spiegel schaute, sagte sie, Alfred, den Körper kann man nicht betrügen, nur die Männer.
    Und auch die Männer nicht für ewig, früher oder später geht das Spiel verloren.
    Alfred sagte:
    »Vielleicht ist so eine Operation keine große Sache. Ich werde mich erkundigen.«
    »Sie ist mit Sicherheit keine große Sache«, beteuerte Sally.
    »Ich werde mich erkundigen«, sagte er nochmals.
    Sally nickte. Sie drehte sich wieder dem Zimmer zu. Der Jahresrückblick im Fernsehen rief in Erinnerung, dass der neu gewählte Präsident der USA auch zum Mann des Jahres gekürt worden war. Auf der Liste mit den Frauen des Jahres fand sich neben gelifteten Schauspielerinnen und langweiligen Sportlerinnen ein zehnjähriges Mädchen. In seiner Heimat hatte das Mädchen nach einer Zwangsheirat die Scheidung von seinem zwanzig Jahre älteren Mann beantragt und vor Gericht Unterstützung erhalten. Der Fernsehschirm zeigte Bilder eines traditionell gekleideten Mädchens mit im Haar einem breiten, dottergelben Band.
    Um nicht länger über Alfreds Bein zu reden, berichtete Sally von einem Mädchen aus Bosnien bei ihr an der Schule. Vier Stunden in der Woche war Sally Bibliothekarin, kurz vor Weihnachten war das Mädchen an einem der Lesetischegesessen und hatte bedauert, dass sie ihre Matheaufgabe nicht verstand. Sally hatte die Textaufgabe durchgelesen und erst nach dem dritten Mal begriffen, was der Mathematiker überhaupt wollte. Nachdem Sally mit eigenen Worten erklärt hatte, wie die Frage gemeint sei, löste das Mädchen die Aufgabe mit links. Bei der Schularbeit hätte sie keinen Punkt bekommen, aber nicht wegen einer Rechenschwäche, sondern wegen der Schwäche des Mathematikers in Deutsch, so relativ war alles.
    »Der Mathematiker hat sogar das Alter des Gärtners angegeben, obwohl es letztlich darum ging, wie viele Blumen in seinem Garten wachsen. Ein zweiundvierzigjähriger Gärtner.«
    »Ein einjähriges Kind schläft sechzehn Stunden am Tag«, sagte Alfred. »Wie viele Stunden schläft ein vierjähriges Kind?«
    »Und wie viele Stunden schläft man mit zweiundfünfzig?
    »Und mit siebenundfünfzig?« fragte Alfred.
    »Viel.«
    »Und wie viele Stunden dauert ein Tag maximal?«
    »Gibt es Zeitreisen?«
    »Ja«, sagte Alfred.
    Er lachte. Die Couch, das alte, abgenutzte Möbelstück, wurde bis in die Knochen hinein erschüttert.
    Der Himmel in den Fenstern ergraute jetzt vollends, ein Licht wie Zementwasser, grau und immer grauer. In einer halben Stunde muss man die Lampe einschalten, dachte Alfred. Und Sally dachte ganz etwas anderes, einer wusste es nicht vom anderen.
    Nach einigen Minuten hörte Sally, dass Alfred in seinem Tagebuch umblätterte. Weil sie es ebenfalls satthatte, zum Fernseher hinzublicken, schaltete sie ihn aus. Ohne klare Absicht, einfach nur in einem Zustand nachmittäglicher Unentschlossenheit setzte sie sich in einen der Polstersessel und schaute Alfred beim Schreiben zu. Ihr gefiel die hartnäckige Art, mit der er sich Notizen machte, wenn sie in seiner Nähe war.
    »Ich bin froh«, sagte er plötzlich, »dass ich in meinem Leben nur mit einer Frau verheiratet war und nicht mit zweien oder dreien.«
    »Ein bisschen eine einseitige Kost ist es schon«, antwortete Sally bedächtig.
    »Das finde ich nicht«, sagte Alfred enttäuscht, er hatte eine andere Antwort erhofft. »Monotonie ist bei weitem nicht das erste, was mir im Zusammenhang mit meiner Ehe einfällt.«
    Er schob einen Finger zwischen die Seiten des Tagebuchs und horchte. Er dachte an das geheime Leben, das Sally nicht mit den Kindern teilte, und an das geheime Leben, das sie nicht mit ihm teilte.
    »Du hast mehr zu bieten, als ich bekomme«, sagte er mit leisem Vorwurf. »Trotzdem ist mir nicht langweilig neben dir.«
    Zu seiner Überraschung war ein »Mhm« alles, was Sally sagte. Er schrieb weiter, völlig ahnungslos, was Sally dachte.
    Was sah er in ihr? Was dachte er sich jetzt?
    Versonnen stieß er ein leises Knurren aus. Sally lachte erschrocken, als sie sich plötzlich mit seinen Augen sah.
    »Es tut mir leid, dass ich oft so eine Wirtschaft mache und oft
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher