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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman
Autoren: Jo Lendle
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durcheinander. Es waren die Söhne verstorbener Beamten, Lehrer und Pastoren aus der Mark Brandenburg, die bei ihnen im Waisenhaus wohnten. Alfred Wegener wurde hineingeboren in ein wildes, lärmendes Rudel, das niemanden je in Ruhe ließ.
    So verschieden die Jungen waren, jeder trug seine Schulkleidung, schwarze Hosen, helles Hemd mit dem eingestickten Wappen, eine Strickjacke gegen die Kälte – die Uniform des Gymnasiums zum Grauen Kloster. Alfreds Vater war Lehrer dort, er unterrichtete alte Sprachen. Er ließ seine Schüler Plato lesen und Ovid und die Psalmen,
so gut es eben ging. Er ließ sie aufschreiben, was sie verstanden, bis auch der letzte begriffen hatte, was er las.
    Mittags, nach der letzten Schulstunde, kamen die Geschwister herüber ins Waisenhaus. Alfreds Vater begleitete sie, er stand der Anstalt vor. Seine Familie lebte mit den Zöglingen unter einem Dach. An den Sonntagen zogen alle in die benachbarte Klosterkirche, wo der Vater die Predigten hielt.
    Schon am siebten Morgen seines Lebens besuchte Alfred zum ersten Mal einen dieser Gottesdienste, in der Woche darauf den nächsten und immer so fort, gemeinsam mit allen anderen, immer gemeinsam, und niemals blieb einer von ihnen allein.

    Alfred Wegeners Vorfahren hatten seit Jahrhunderten als Pfarrer in Schlesien und der Mark gelebt, in Dörfern, deren Namen es längst nicht mehr gab. Sonntags hatten sie den Menschen mit leiser Stimme aus den Evangelien vorgelesen, sie hatten die Kinder Beten gelehrt und Lesen und Singen und Hoffen. Von jedem hatten sie Namen und Geburtstag im Kopf und hielten daneben schon etwas Platz für den Sterbetag. Sie kannten das Leben jedes Einzelnen, sie tauften, trauten und begruben sie. Im Gegenzug versorgten die Bauern sie mit allem, was man zum Leben brauchte, und oft waren ihre Häuser die schönsten des Ortes, weil alle zusammen sie errichtet hatten.
    Diese Vorfahren waren eigensinnige Menschen gewesen, selbstbewusst gegenüber den Kirchenoberen und unempfänglich für ihre Vorgaben. Lieber studierten sie
selbst die Heilige Schrift und legten sie aus, wie es ihnen für ihre Schützlinge am besten erschien. Sie erfanden eigene Rituale und neue, vielstimmige Gesänge.
    Nur allmählich wuchsen ihre Interessen über das Seelsorgamt hinaus.
     
    Alfreds Vater war der erste in der Reihe seiner Ahnen, der schrieb. Begonnen hatte er mit theologischen Aufsätzen, die von Mal zu Mal freimütiger ausfielen und sich mit jedem Anlauf weiter von Gott entfernten. Richard Wegener schrieb nachts, wenn alles schlief, vielleicht sogar Gott. Er hätte nicht erklären können, was falsch daran war. Er fühlte nur, dass sein Schreiben ihn von der Welt entfernte, aus der er kam, von ihren Regeln und Gesetzen.
    Tagsüber nahm er sich vor, damit aufzuhören, nachts aber lockte ihn die Grenzenlosigkeit der leeren Seite. Am Ende stand eine kleine Sammlung von Gedichten, der er den Titel Poetischer Fruchtgarten gab. Er zeigte sie nicht einmal seiner Frau.
    Ein Verleger in Cöthen erklärte sich zur Publikation bereit, bald darauf bekam Richard Wegener sein Handexemplar geschickt, in rotes Leinen gebunden. Er verbrannte es im Kamin.
    Als das Feuer erlosch, war das Buch zu Asche geworden, ohne zerfallen zu sein. Deutlich war noch der Titel zu erkennen und das eingesetzte Schildchen mit der Zeichnung eines Bauerngartens, in der Mitte ein schreiender Hahn. Darüber sein Name. Er nahm den Schürhaken und stocherte so lange in der Asche, bis nichts als helle Flocken übrig waren.

    Richard Wegener schrieb nie wieder ein einziges Gedicht. Beim Einschlafen betete er, seine Kinder würden niemals von den Abschweifungen ihres Vaters erfahren. Sie sollten auf Gottes Wegen bleiben.
     
    Seine Frau hatte er in Wittstock getroffen. Da war er vierundzwanzig gewesen und noch immer Student der Theologie. Er wollte der Welt etwas schenken. Anna Schwarz hatte früh ihre Eltern verloren. Richard hatte seit jeher eine Schwäche für Waisenkinder gehabt. Er sah sie auf einem Empfang des Superintendenten, bei dem sie aushalf, Anna lief mit einem Krug voll Eiswasser durch die Reihen der Gäste, es war ein brütend heißer Nachmittag. Neben dem Gemeindehaus gab es ein kleines Dörr-, Brau- und Waschhaus. Später behauptete er, Anna habe ihm schöne Augen gemacht. Sie entgegnete, sie habe sich nur gewundert, warum er die ganze Zeit zu ihr herüberstarrte.
    Sie hatte damals schon dieses Gesicht, mit den großen blauen Augen. Er fror an diesem Nachmittag im Hof des
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