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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman
Autoren: Jo Lendle
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Kneipp. Obwohl katholisch, hatte er bedenkenswerte Ansichten. Ihr imponierte, dass ihn ein Bad in der eiskalten Donau von seiner Tuberkulose geheilt hatte. Einen seiner Sätze behielt sie im Gedächtnis: Wenn du merkst, du hast gegessen, dann hast du schon zu viel gegessen. Morgens bei Sonnenaufgang lief sie von nun an mit ihren drei Jüngsten an den Gartenteich, zog ihnen Schuhe und Strümpfe aus, und Käte, Kurt und Alfred sprangen mit Geschrei in das kleine Becken. Sie mussten sich aneinander festhalten, um nicht umzufallen vor Überschwang. Manchmal begleiteten die Größeren sie, aber sie durften nicht mit hinein zum Wassertreten. Stumm standen sie am Rand des Teiches und ärgerten sich, so gut bei Gesundheit zu sein.

    Alfreds Kindheit erstreckte sich zwischen dem Esstisch, der Schulbank, dem Garten, der Kirche und ihrem großen Schlafsaal. Auch die Kinder der Familie schliefen nachts zusammen mit den Waisen in der allgemeinen Bettenstube, das empfindliche Gerechtigkeitsgefühl ihres Vaters ließ es anders nicht zu.

    Alfred gehörte das Bett am Fenster. Auf seinem Nachttischchen stand eine Schneekugel, die er abends in die Hand nahm, um ihre glatte, kühle Form zu spüren. Wenn der Mond aufging, brach sich sein Licht darin. Dann schüttelte er die Kugel und sah den Schnee unhörbar niedergehen wie in einer Sanduhr. Unter der gläsernen Kuppel steckte der Kölner Dom, klein und stolz wie Alfred selbst. Das Spielzeug war ein Geschenk seines Onkels gewesen, zu Alfreds Geburt, als der Dom gerade fertig gebaut worden war. »Sechshundert Jahre nach dem ersten Spatenstich«, hatte der Onkel zu Anna gesagt. Gut, dass der Junge schneller fertig geworden sei.
    Geschwindigkeit war jetzt in aller Munde. Überall gab es neue Pläne. Beim Frühstück schaute der Vater von seiner Zeitung auf und sagte, nun wollten sie in Berlin eine neue Eisenbahn bauen, unter der Erde. Er las die geplanten Fahrzeiten vor, und Alfred lernte sie auswendig. Von der Warschauer Straße bis zum Stralauer Tor würde die Bahn nur eine Minute brauchen. Er selbst hätte sich in dieser Zeit nicht einmal die Schuhe geschnürt.
     
    Für den Küchenherd gab es eine Waffelpfanne aus Eisen. Am Totensonntag hob die Mutter mit der Ofenzange das runde Mittelstück aus der Herdplatte und danach einen Ring nach dem anderen, von den kleineren im Zentrum bis zu den äußeren, immer höher schlugen die Flammen hervor, und Alfred, der danebenstand, fürchtete schon, sie könnten ihn erreichen, aber da kam die Mutter und setzte die Pfanne genau in das Loch hinein. Während sich das Eisen erwärmte, bereitete sie den Teig, dann wurde gebacken. Die Mutter riss die heißen Waffeln mit bloßen
Händen auseinander und verteilte sie. Die Kinder verglichen die Größe ihrer Stücke und prüften, wo sie aneinanderpassten. Immer beschwerte sich Willi, Alfreds ältester Bruder, er sei zu kurz gekommen, aber niemand achtete darauf. Jedes Kind durfte sich selbst Puderzucker auf seine Waffeln streuen.
    Als die Mutter einmal den Raum verließ, beugte sich Willi zu Alfred hinüber und fragte, ob er schon einmal im ewigen Eis gewesen sei. Vorsichtig schüttelte Alfred den Kopf. »Hier drin«, sagte Willi, »ist das ewige Eis«, und hielt ihm die Puderzuckerdose hin. Neugierig näherte sich Alfred den Löchern im Deckel, da klopfte Willi von unten ans Blech der Dose, und Alfred hatte das Gesicht voll von dem weißen Staub.
    Das Lachen der anderen, das Ringen um die Puderzuckerdose und wie im Versuch, sie Willi aus der Hand zu reißen, immer weitere Wolken in die Luft stiegen, die langsam durch den Raum zogen. Alfreds Sorge, ob das erlaubt war, und seine entsetzliche Wut, die alles überdeckte. Endlich bekam er die Dose mit beiden Händen zu packen und riss daran, aber es war nur der Deckel, den er in der Hand hielt. Lachend machte Willi einen Schritt auf ihn zu und schüttete die ganze Ladung über ihm aus. Als die Mutter zurückkam, war das Zimmer eine weiße Wüste. Darin nur die vor Schreck erstarrten Kinder und der schwarze, vor Hitze puckernde Ofen.
     
    Zu Weihnachten bekam jedes der Kinder einen Satz Kreidestifte in allen Farben. Nebeneinander saßen sie an dem langen Tisch und füllten Blatt um Blatt. Am beliebtesten waren die Rötel mit den Hautfarben, immerzu mussten
sie gespitzt werden. Am Ende verschenkte Alfred seine an Kurt, um ihm eine Freude zu bereiten. Er malte ohnehin keine Menschen.

    Das Trommeln überall, das Knallen und die Schüsse, der Lärm von allen
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