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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman
Autoren: Jo Lendle
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mit Bildern aus seiner Erinnerung zu füllen, aber alles, was er sah, blieb hinter einer Wolke aus Puderzucker verborgen: die Jungfernbrücke, darunter der Kanal, über den ein toter Schmetterling trieb. Eine in der Ferne verschwindende Braut. Eine leere Schneekugel, ein schwingendes Pendel, seine erkaltete Pfeife.
    Er versuchte sich das alles vor Augen zu rufen, ihre Spiele am Wasser, die Schar seiner Geschwister. Wie ausgelassen sie waren. Willi fiel ihm ein, der im Eis eingebrochen war, und auf einmal bekam er Angst, selber durch dieses Eis zu brechen. Aber er wusste ja, dass es stark genug war, viel stärker als er selbst. Er hörte die Stimme seiner Mutter, fand jedoch kein Bild von ihr, nur immer ihre Stimme, mit der sie ihn in einer fremden Sprache ermahnte. Er sah seinen Vater, ohne ihn recht erkennen zu können, weil das Gesicht in den Händen verborgen war, zum Gebet oder aus Verzweiflung. Es brauchte einen Moment, bis Wegener erkannte, dass er selbst die Hände vors Gesicht hielt, zum Schutz gegen den Schnee. Er kniete auf dem Boden, den Kopf gesenkt, und freute sich über die Wärme, die auf einmal in ihm war. Vielleicht lag er auch auf der Seite, mit angezogenen Beinen, und es fühlte sich nur so an, als würde er knien. Wie froh er war. Die Freude, dass kein Hund kam, um an seinen Jackenärmeln zu knabbern. Die Freude, all das bei Bewusstsein zu erleben und eines Tages in einem Aufsatz zusammenfassen zu können. Die Freude, dass sein Vater ihm nicht mehr zusah. Leider blieb nun doch offen, wer von ihnen am Ende triumphierte.
    Der Wind kam von allen Seiten zugleich, er schien sich an ihm nicht zu stören. Die Unruhe legte sich, das Krabbeln
der Gedanken. Wegener spürte die gemächliche Wanderung der magnetischen Pole. Wenn er die Augen schloss, sah er alte, ausgestorbene Tiere und reichte ihnen die Hand. Er lief über Landbrücken, er lief über das Meer. Er hörte das gläserne Klingen der Luftschichten und erkannte jede von ihnen. Er dachte an die überfrorenen Wiesen seiner Jugend, an den verschneiten Pflaumenbaum im Garten vor dem Haus in Zechlinerhütte, er dachte daran, wie er als Junge dort oben gesessen und sich das alles vorgestellt hatte, die Polarnacht und wie es wäre, darin umzukommen. Er dachte an den Raureif auf dem letzten noch nicht gefallenen Blatt, an die eisige Luft. Wie er am Ende vom Baum heruntergeklettert war, die Hände rissig vom Wind und von der Rinde. Warum hier?
    Auf einmal war Rasmus bei ihm und führte ihn zu ihrem Zelt. Was für ein Wunderwerk so ein Zelt war. Und was für ein Wunderwerk dieser Rasmus war. Ein Engel, ein Teufelskerl. Leider gelang es dem Zelt nicht, die Kälte zu vertreiben, die sich in ihm ausbreitete. Sie schien aus ihm selbst zu kommen, aus seinen Knochen.
     
    Wie eng es im Zelt war, wie wenig Luft es dort gab. Und überall die Ameisen, die nun von allen Seiten herankamen.
    Weiße Ameisen, strahlend weiß, Schneeameisen vielleicht, das Jucken überall, schon waren ihm die ersten in die Hosenbeine geklettert, sie waren auf seinen Händen, auf den Ärmeln seiner Jacke. Wie sie sich aufrichteten zum Kampf, was hatte er ihnen getan? Die Fühler, die kleinen Zähne. Wie robust sie waren. Ihre einzigartige Fähigkeit, Erdbeben vorauszusagen, immer fanden sie noch Zeit, ihre
Nester zu verlegen. Sie waren diejenigen, die den Menschen überleben würden.
    Auf einmal sah er, wie bei ihnen allen die Panzer auf dem Rücken rissen, wie etwas herausfuhr, knitterig wie altes Pergament, und sich teilte. Es waren Flügel, sie konnten ja fliegen. Schon erhoben sich die ersten in die Luft, für einen Moment flatterten sie durchs Zelt wie Schneeflocken, wie ein Schneeflockenschwarm im Wind, dann flogen sie auf und nahmen ihn tatsächlich mit, hinaus aus dem Zelt und fort zu einer neuen Kolonie.

    Bald erschienen Rentierhaare im Schnee, dann ein Fell und Wegeners Pelz. In zwei Schlafsackbezüge eingenäht, wurde er gefunden.
    Wegener lag auf einem Rentierfell, einen dreiviertel Meter unter der Schneeoberfläche vom November 1930. Seine Augen waren offen, der Gesichtsausdruck entspannt, ruhig, fast lächelnd. Das blasse Gesicht sah jugendlicher aus als früher.
    Nase und Hände zeigten kleine Frostwunden, wie sie auf solchen Reisen üblich sind.

    Rasmus dagegen blieb verschollen. Einige seiner Zeltplätze wurden gefunden, in immer kürzeren Abständen, am Ende nur noch ein Hundelager. Mit ihm verschollen blieb Wegeners Tagebuch.

    Alfred Wegeners Theorie von der Drift der
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