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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman
Autoren: Jo Lendle
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Füße und prägte sich ein, wo und wie weit er schneiden müsse, um die Zehen glatt vom Gelenk zu trennen. Gerade als er doch noch eingedämmert war, kam Georgi und weckte ihn.

    Gemeinsam versuchten sie Loewes Fuß durch Auflegen von zerstoßenem Firn etwas empfindungslos zu machen. Es gab keine schmerzstillenden Medikamente, keine Injektionsspritze, die Kiste mit dem Alkohol lag bei Kilometer 62. Sorge hielt Loewes Fuß im Schoß, leuchtete und reichte Instrumente und Verbandszeug.
    Wegener schnitt mit einer Blechschere. Welche Selbstbeherrschung Loewe bewies. Er hatte so viele Reisepläne gehabt. Es dauerte eine geschlagene Stunde.
     
    Später saßen sie zusammen. Loewe fieberte auf seinem Lager, war aber – wenn es gelang, ihn zu wecken – ansprechbar. Er behauptete, Tiere zu sehen, viele Tiere. Was für schöne Tiere das seien. Wenn man ihn bat, sie zu beschreiben, war er schon wieder eingeschlafen.
    Sie machten eine Unmenge Listen in dieser Nacht. Einteilungen, Abwägungen, Bestandsaufnahmen der verschiedenen Depots aus dem Gedächtnis. Planungen für die erste Reise im Frühjahr unter den verschiedensten Wetterannahmen. Zwischendurch wurden sie regelrecht ausgelassen. Sorge fütterte Wegener und Georgi mit Butterbroten. Niemand mochte daran denken, dass es in vier Stunden schon wieder Zeit zum Aufbruch war. Vor dem herannahenden Winter kam es auf jeden Tag an. Noch immer hatte Wegener nicht entschieden, wer hinausmusste.
    Er sah Sorge zu, der mit der Blechschere spielte. Gedankenverloren begann er sich die Nägel zu schneiden, Finger für Finger. Dann ließ er die Schere auf dem Tisch tanzen, nach dem Drehen zeigten die geöffneten Klingen auf Wegener und Rasmus. Es war unübersehbar, aber keiner der anderen nahm davon Notiz.

    Er würde mit Rasmus zurückkehren. Gegen alle Widrigkeiten. Wegener verkündete seinen Entschluss und strich dabei heraus, dass Georgi und Sorge zweifellos am besten geeignet seien, ihre begonnenen Arbeiten zu Ende zu führen. Er betonte das Wort »begonnen«.
    Die beiden stimmten zu und erklärten sich bereit, die Vorräte noch weiter zu rationieren, um im äußersten Notfall bis zum Juni ausharren zu können.
    Während Wegener und Rasmus die Kisten umpackten und Georgi Proviant für ihre Rückreise zusammenstellte, war Sorge so gut, sich Wegeners Unterwäsche anzunehmen. Allein in seinem Hemd mochten wohl fünf- oder zehntausend Eier sitzen. Immer wieder erhitzte Sorge mit der Lötlampe den Metallbeschlag eines Skis und bügelte damit innen und außen so kräftig über den Stoff, dass nicht viel fehlte, und er hätte Löcher hineingerissen. Wegener drängte zur Eile, er fror beim Packen. Sorge reichte ihm die Wäsche mit einem grimmigen Lächeln: Er hoffe, die Biester entweder zerstört oder zumindest stark beschädigt zu haben.
     
    Am Ende entschieden sie, sich doch noch für einen Moment hinzulegen. Georgi und Sorge traten ihre Betten an die Gäste ab, während sie sich auf dem Boden der Höhle ausstrecken würden. Wegener war zu erschöpft, um zu widersprechen, er hoffte nur, ihnen nicht zu viele Läuse zurückzulassen. Dann lag er da, zitternd vor Müdigkeit und Kälte, was ihn lange vom Einschlafen abhielt.
    Mit dem Nagel seines Daumens putzte er sich die Fingernägel. Wie lang sie geworden waren. Anschließend säuberte er auf dieselbe Weise die Nägel der anderen Hand
und begann dann wieder von vorn. Nichts anderes war ihre Art, Erkenntnis zu gewinnen, ein Hin-und-her-Schieben von Gewissheiten, die sich gegenseitig stützten, ohne wirklich Halt zu bieten. Und wenn einmal ein fester Ort gefunden war, brachte ihn gewiss bald wieder einer ins Wanken.
    War das vor ein, zwei Generationen anders gewesen, zu Zeiten der großen Heroen? Gehörte der Zweifel nur in ihre Gegenwart? Würde er jemals vergehen? Die Unmöglichkeit, seine eigene Epoche mit einer vorhergehenden zu vergleichen, einfach weil man sie noch nicht von außen sah. Wie schwer es fiel, Entwicklungen einzuschätzen. Kein Mensch erlebte das Vergehen von Zeit, ohne selbst darüber zu altern. Das ewige Gerede über die Jugend, die Moden, den Fortschritt sagte weniger aus über die tatsächliche äußere Entwicklung als über das Vergehen der inneren Zeit jedes Einzelnen.
    Wegeners letzter Gedanke, bevor er doch noch in den Schlaf fand: Die erste Hälfte seines Lebens war nun vorüber.

Die äußere Hörbarkeitsgrenze
    Es war früher Morgen, als Georgi sie weckte. Ein unwirklicher, zauberhafter Lichtschein drang durch
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