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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman
Autoren: Jo Lendle
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dieser Schneefall noch einmal ein Ende finden würde. Ob die Ameisen sie alle überlebten? Kerbtiere hatten sich als ungeheuer anpassungsfähig erwiesen. Kontinente waren gekommen und gegangen, die Ameisen aber blieben. Was machte sie so robust? Ihr Panzer? Wohl kaum, viel zu leicht ließ er sich zerdrücken. Ihre Unermüdlichkeit, ihre Zahl? Ameise müsste man sein, eine von vielen. Woran glaubten Ameisen?
    Auf einmal fiel ihm ein, dass er ja wusste, wie es weiterging. Er konnte es berechnen, er hatte es ja selbst erfunden. Immer hatte er nur rückwärtsgeschaut, in die Vergangenheit. Er hatte die Bewegungen der Länder auf den kurzen Moment seiner Gegenwart hin untersucht. Wie alles gekommen war. Ebenso gut aber konnte man diese Bewegungen ja fortführen, weitererzählen, in eine Zukunft hinaus, die auf einmal weniger unabsehbar war als seine nächste Umgebung.
    Die folgenden Kilometer verbrachte er mit dem Berechnen dieser Zukunft. Wie gut es tat, sich an einer Aufgabe festhalten zu können. So hatte er es immer gehalten, wenn ihm etwas zu nahe kam, so wie er sich selbst zu nahe gekommen war in diesen Tagen. Anfangs ärgerte er
sich darüber, alle Berechnungen im Kopf anstellen zu müssen. Nicht einmal seine Finger konnte er zu Hilfe nehmen, unerreichbar steckten sie in den Handschuhen.
    Wie traurig, dass er all das nicht aufschreiben konnte. Wie traurig, dass es in seinem Kopf gefangen blieb. War dort nicht ohnehin recht viel gefangen?
    Am späten Nachmittag hatte er ausgerechnet, dass bei gleichbleibender Geschwindigkeit und Richtung der Nordpol in dreiundzwanzig Millionen Jahren die Südspitze von Grönland erreichen würde. Er wartete auf ein Gefühl der Beruhigung, das sich nicht einstellte. Am späten Abend endlich fand er heraus, dass in vierzig Millionen Jahren Europa entlang des Rheins auseinanderbrechen würde. Für einen Moment sorgte er sich um Else und die Kinder. Dann war auch das vorbei.
    Er wünschte, sie würden ihn in Erinnerung behalten als der, der er hätte sein können. Es war ihm gleich, was kommende Generationen aus seinem Leben machen würden. Alles von vorn, immer wieder. Man musste die Vergangenheiten ziehen lassen wie die Länder. Am Ende trafen sie doch wieder zusammen.
    Ein heimlicher Freund der Menschen. Er hatte keinen anderen Wunsch gehabt, als ihnen ihre Möglichkeiten zu lassen. Ein Liebhaber der Arktis, vielleicht ihr größter. Auch wenn die Natur der Arktis ihn nun zu überwinden schien. Immer tiefer sanken die Skier im Neuschnee ein.
     
    Er wünschte sich, Else einen Brief zu schreiben, fürchtete aber, dass seine Hände nicht mehr dazu taugten. Was er geschrieben hätte: eine Entschuldigung dafür, sie im Rahmen ihrer Fahrt im Freiballon als Ballast verwendet zu
haben. Die Frage, ob sie sich daran erinnere, wie er am Anfang ihrer Bekanntschaft gesagt habe, es werde nie mehr sein wie früher. Der Urkontinent sei verloren. Sie seien daraus vertrieben, kein Weg führe zurück. Diese Ansicht sei ein Fehler, er müsse ihn richtigstellen. Heute erst sei ihm eingefallen, dass es sich bei der Erde ja um eine Kugel handelte. Die große Genugtuung über diese Einsicht, wie sie gewiss nachvollziehen könne. Heute erst, bedingt durch die Tatsache, dass die Zeit zum Nachdenken hier draußen recht großzügig bemessen sei, habe er festgestellt, was daraus folge. In zweihundertfünfzig Millionen Jahren würde alles Land wieder zueinanderkommen, auf der Rückseite der Welt, alle Länder fänden zusammen und wären endlich wieder vereint. Und mit ihnen, so hoffe er, sie alle. Else, die Kinder, die Köppens. Seine Eltern einschließlich seines Vaters. All die Geschwister, die leiblichen und die angenommenen, mit ihren eigenen Kindern und Kindeskindern, für die auf dem riesigen neuen Kontinent hoffentlich ausreichend Platz war. Sie würden alle da sein, er konnte es kaum erwarten, Mylius-Erichsen wiederzusehen, auch Nansen, sogar Suess sowie die verschiedenen Kaiser, diesmal hoffentlich mit ihren Kaiserwecken. Und seine Gottesdienstfreundin wäre dort. Wie hatte er sie gleich genannt, Einhörnchen? Irgend so etwas. Auf sie freute er sich besonders.
     
    Wie leer und unbevölkert es war. Der Himmel mochte wissen, was er hier suchte. Auch wenn er die vielen Arten von Weiß schätzte, die sich auf diesem so großzügig angelegten Schneefeld fanden, er hätte jetzt eine menschliche Seele bei sich gebraucht, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben.

    Er versuchte die Leere der Schneelandschaft
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