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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman
Autoren: Jo Lendle
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Superintendenten von all dem Eiswasser, das er sich hatte bringen lassen. Ihm gefiel ihr Familienname, er stellte sich vor, dass bei der Hochzeit alle in Schwarz kämen. Erst auf dem Heimweg wurde ihm bewusst, dass er nicht in der Lage war, eine Familie zu unterhalten. Von diesem Tag an tat er alles, um in diesen Stand zu geraten.
    Ein knappes Jahr später hielt er sein Abschlusszeugnis in der Hand und fand eine Stelle als Hilfsprediger in der Provinz Posen. Sie brachte ihm dreihundert Taler Jahresgehalt und die Kollekte der Weihnachtsfeiertage. An Johannis 1868 beim ersten Gurren der Tauben hatte er Anna zum
Traualtar geführt, bei ihrem Eintreten in den Kirchenraum erhoben sich alle von den Bänken, ein einziges schwarzes Rascheln von Bratenröcken und Taft.

    Wenn die Mutter am Vormittag die Wäsche besorgte, legte sie ihren Jüngsten auf den Boden des Elternschlafzimmers im ersten Stock des Hauses an der Friedrichsgracht. Alfred war jetzt ein Dreivierteljahr alt. Es war Sommer, alles kam in Bewegung, nur Alfred nicht. Er verbrachte seine Vormittage auf der Schurwolldecke, ohne sich zu regen. Manchmal sorgten sich seine Eltern, er könne für immer so liegen bleiben, und stritten leise, ob man ihm helfen müsse, die Gliedmaßen zu bewegen, oder ob die Bewegung von selber komme, aus Gott.
    Alfred lag bäuchlings auf seiner Decke, den Kopf weit im Nacken. Zwischen den Vorhängen fiel ein Streifen Licht herein, in dem der Staub tanzte. Über dem dunklen Bett hingen die Gesichter seiner Großeltern und schauten auf ihn herab. Im offenen Uhrkasten hielt das Pendel die Zeit in Gang. Es gab ein Übermaß an Geruch in diesem Zimmer. Nach Lavendel roch es, nach Staub, nach den Schurwollschlaufen unter seinem Kinn. Es roch nach dem Geschmack in seinem Mund und nach den Körpern seiner Eltern, wenn sie ihn an sich drückten. Zwischen den Bettpfosten stand ihr Nachtgeschirr, von einem grauen Tuch bedeckt.
    Da bewegte sich auf einmal etwas, direkt vor Alfreds Augen, eine schwarze Flocke. Er kniff die Lider zusammen. Es war eine Ameise. Alfred ließ ein gurgelndes Lachen hören, er freute sich. Auch die Ameise hob ihren Kopf und
streckte die Vorderbeine aus. Endlich gelang es auch ihm, die Arme zu heben. Er wünschte sich, das Tier zu berühren, immer wieder ballte er die Faust, stieß gegen seine Schläfe und in die Luft. Nach einer Weile erst traf er endlich das Tier und zerdrückte es mit einem Schrei der Wonne.
     
    Dahinter lief eine zweite Ameise und hinter dieser noch weitere. Es war eine kleine Kolonne, eine emsig krauchende Linie zappelnder Pünktchen. Sie zog sich unter dem Bett entlang, um den Nachttopf herum und an der Fußleiste vor bis zur Tür.
    Alfred lief ein dünner Faden Speichel auf den Handrücken. Er stemmte die Arme auf die Decke und drückte seinen Leib in die Höhe. Der kleine, in ein Nest weißer Windeln gebundene Körper bäumte sich auf und fiel zur Seite. Alfred rollte von der Decke, der ganze Raum wickelte sich um ihn, bis er gegen die Kante des Bettes schlug und auf dem Rücken liegen blieb. Er hörte sich atmen. Aus ihren hölzernen Rahmen sahen die Großeltern seinem Treiben zu.
    Alfred streckte die Hand aus und fasste nach dem Fuß des Bettes. Seine Finger krallten sich ums dunkelbraune Holz, dann spannte er den Arm an und drehte sich langsam zurück auf den Bauch. So kannte er alles wieder. Vorsichtig zog er am Bett und rutschte stattdessen selber vorwärts. Wie leicht es ging. Mit den Händen schob er sich weiter. Schon berührte er mit der Stirn den Rahmen und beugte den Kopf, bis er unter dem Bett verschwand. Er tauchte ein in den Strom der Ameisen.
    Die Unterseite der Matratze war rissig. Das Netz aus Stahlfedern hing in der Mitte durch, sie kratzten ihm über
die Haut, hakten sich im Stoff der Windeln fest und zerrissen sie. Unaufhörlich schob er sich voran. Es war finster hier unten, der Nachttopf gab, als Alfred mit der Stirn dagegenstieß, einen dunklen Ton von sich. Längst tappte er mit den Händen auf Ameisen, krabbelten Ameisen über seinen Körper, sein Gesicht, sie verloren sich in den Falten seiner Windeln und bissen in seine Haut. Alfred weinte, aber er zog sich weiter. Vor ihm leuchtete der Spalt, wo es hinausführte ins Zimmer.
    Als er sich unter dem Bettrahmen zurück ins Freie geschoben hatte, legte Alfred für einen Moment die Wange auf das Holz des Parketts und versuchte zu Atem zu kommen. Er wischte sich mit der Faust übers Gesicht und hob den Kopf.
    Die Tür vor ihm
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