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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras
Autoren: Christian Mähr
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sie mit diesen Gedanken konfrontierte, »es gehören immer zwei dazu, oder? Du hast mir von Anfang an gefallen, vom ersten Tag an …« Das tröstete ihn, sie hatte ja recht.

    *

    Er hätte später nicht sagen können, ob ihm an Roland Mathis am nächsten Tag etwas aufgefallen sei – wenn ihn jemand danach gefragt hätte. Bei einem halbwegs normalen Verlauf der Ereignisse hätte ihn sicher jemand gefragt. Neben vielen anderen Dingen, man kennt das aus dem Fernsehen. Aber so, wie die Dinge dann liefen, fragte ihn niemand nach Roland Mathis, jedenfalls nicht gleich. Er malte sich oft aus, wie das gewesen wäre, der normale Verlauf, was für Fragen gekommen wären, was er darauf geantwortet hätte; er bemühte sich, Fragen und Antworten vorauszusehen, das Spiel – mehr war es ja nicht – mit möglichst viel Realität zu füllen. Aber auch bei aller Anstrengung des Sich-wieder-Erinnerns, bei aller Mühe, sich kleinste Details dieses Tages ins Gedächtnis zu rufen, fiel ihm an Roland Mathis nichts auf. Der war, sofern er sich an ihn an diesem Tag erinnern konnte, so mürrisch wie immer,machte den leicht abwesenden Eindruck wie alle Tage davor. Bis eben zum Abend. Da blieb er nämlich länger als sonst. Galba hatte an diesem Abend Berichte nachzuschreiben, er hatte seine Frau angerufen und ihr mitgeteilt, dass es heute länger dauern könne – er erledigte solche Arbeiten im Büro, nie zu Hause, wo er, wenn schon nicht den vorzüglichen Ehemann (das war vorbei), so doch den nicht weniger vorzüglichen Vater spielte. Auch Helga hatte etwas vor, so dass amouröse Verwicklungen an diesem Abend nicht zu erwarten waren, sie teilten die Einsicht, man soll es nicht übertreiben, überhaupt nichts. Und das schon gar nicht.
    Mathis stand bei der BSB 5 -Titration, das Gerät hatte einen Fehler, hinter den er heute noch kommen wollte, wie er mit seiner leisen, verwaschenen Stimme Galba am Nachmittag erklärt hatte. Galba dachte sich nichts dabei, er schätzte Mathis nicht besonders als Mensch, aber als Mitarbeiter. Es gab praktisch nichts, was der nicht reparieren konnte. Das sparte viel Geld. Auch Galba selber war geschickt, wie ihm alle versicherten, also stimmte es wohl, aber kaputte Geräte zu reparieren, kam in seiner Stellung nicht in Frage: Er konnte Fehler konstatieren und Reparaturen delegieren oder veranlassen , das war’s dann. Der Chef mit einem Schraubenzieher, das machte kein gutes Bild. Außer zum Zweck der Optimierung oder Fehler suche. Suche und Behebung waren zwei Paar Schuhe. Also erhob er sich gegen neun vom Schreibtisch, um Mathis bei der offenbar immer noch nicht beendeten Fehler suche zu unterstützen, denn nach einer Behebung sah das nicht mehr aus, die hätte Mathis längst erledigt. Er trat an den Titrierstand heran, der sich vollständig aufgebaut und betriebsbereit seinen Blicken darbot, Mathis stand davor und stierte in die Glasvorlage, als spiele sich dort ein unerwartetes chemisches Wunder ab, die tatsächliche, nicht bloß metaphorische Wandlungvon Scheiße in Gold, und er sagte, ohne sich umzudrehen, als Galba herantrat: »Ich muss mit dir reden.«
    Galba war nicht erschrocken, keine Spur. Dass die Mitarbeiter »mit ihm reden mussten«, kam ab und zu vor, aber wirklich nur ab und zu. Worum ging es da? Immer nur um Personalprobleme. Das hieß in der ARA, dass ein Personalteil mit einem anderen Personalteil nicht auskam, dass der eine etwas gesagt hatte, was der oder die andere in den falschen Hals gekriegt hatte, und so weiter. Anton Galba erledigte solche Fälle mit dem zu erwartenden Ernst und einer gewissen jovialen Nachdrücklichkeit, die ihn bei seinen Leuten beliebt machte. Er regte sich nicht auf, hielt solche Sachen nicht für kontraproduktiven Quatsch, wie er das von anderen Chefs gehört hatte – aber er absolvierte auch keine Konfliktbewältigungs- und Mediationsseminare.
    So war er gespannt, mit welchem zwischenmenschlichen Problem ihn der mürrische Einzelgänger Roland Mathis konfrontieren würde. Seltsame Sache: Der redete kaum mit den Kollegen, wie konnte sich da Streit entwickeln? Mathis warf ihm nun einen, wie sich Galba einbildete, durchaus skeptischen Blick zu und sagte: »Aber nicht hier. Im Turm.«
    Der Singular Turm war nicht korrekt, in Wahrheit gab es drei Türme. Zwei Gärbehälter, große Zylinder mit kegelförmigem Aufsatz, jeder von ihnen fast so breit wie hoch (ohne den Aufsatz), dazwischen erhob sich ein Bauwerk, auf das die Bezeichnung Turm zutraf, der Zugangsbau
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