Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras
Autoren: Christian Mähr
Vom Netzwerk:
zurückgekehrt, so dass man wieder hätte miteinander sprechen können; viel wahrscheinlicher war freilich, dass sie danach nie wieder ein Wort gewechselt hätten. Aber genau wusste er es eben nicht.
    Denn er hatte ihn nicht ausreden lassen. Sondern weggestoßen. Was heißt gestoßen . Geschubst. Buchstäblich. Mit den Fingerspitzen. Nur mit den Spitzen seiner Finger, um die Berührungsfläche so klein wie möglich zu halten, hatte er den Roland Mathis von sich weggeschubst. Der war gestolpert. Worüber eigentlich, kam nie heraus, Galba fand keine Erklärung, so viel er auch darüber nachdachte (und er dachte sehr, sehr viel darüber nach). Es war ein Unfall, ein Zusammenwirken unglücklicher Umstände. Mathis fiel nach hinten die fünfzehn Stufen der Treppe hinunter, blieb auf dem nächsten Absatz liegen. Und war tot.
    Das fand Anton Galba heraus, als er dem Laboranten die Finger an die Carotis legte. Kein Puls. Anton Galba stieg die Treppen hinunter ins Erdgeschoss, löschte das Licht im Treppenhaus und trat ins Freie. Es war nun so dunkel, dass man nichts mehr erkennen konnte, keine Person, keinen Gegenstand, nicht die Hand vor den Augen. Auch zu hören war nichts, außer das gleichmäßige Brummen der Schlammpumpen vom Silo her. Anton Galba schwitzte, das Hemd fühlte sich feucht auf der Haut an. Die ersten Tropfen fielen. Er kehrte in den Turm zurück.
    Er war nicht panisch, nicht hysterisch, nicht einmal hektisch. Eine große Ruhe hatte ihn ergriffen, aber eine künstliche wie von einem verschreibungspflichtigen Medikament, das nicht gern verschrieben wird, weil sich die Berichte über Abhängigkeit häufen. Daran könnte man sich gewöhnen, dachte er, an dieses Gefühl. Er hatte keine Ahnung, woher es kam, aus welchen unbekannten Tiefen seiner Seele. Vielleicht schützt sie sich, die Seele nämlich, vor den Dingen, die ich noch nie getan habe, aber von denen sie schon weiß, dass ich sie gleich tun werde. Dachte er.
    Er ging wieder hinauf in den dritten Stock. Roland Mathisblickte immer noch überrascht zur Decke, für ihn war das die untere Seite des nächsten Treppenabsatzes. Er schaute so konzentriert dort hinauf, dass man meinen konnte, Roland Mathis bedaure zutiefst, den vierten Stock nicht geschafft zu haben. Aber was hätte das geändert? Er läge auf jenem Absatz, eben ein Stockwerk höher. Was wäre besser daran?
    Jeder Abschnitt und Ansatz der Treppe gleicht allen anderen, dem darunter und dem darüber. Vielleicht, kam es Anton Galba in den Sinn, sehen die Toten Dinge, die wir nicht sehen, und Zusammenhänge, die uns verborgen bleiben. Vielleicht ganz einfache Dinge und Zusammenhänge, die uns genauso offenstünden, wenn wir nur lang genug hinschauen würden. Aber das können wir nicht. Weil wir zwinkern. Nach ein paar Sekunden müssen wir zwinkern. Roland Mathis musste nicht mehr zwinkern, die Flüssigkeit auf seinen Augäpfeln vertrocknete. Und viele andere Prozesse setzten nun ein, sichtbare und noch unsichtbare. Anton Galba verspürte neben dem Gefühl künstlicher Ruhe ein zweites: eine gewisse Feierlichkeit. Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Psalm 40, Vers 6. Auf dieser Stelle war Pfarrer Moser im Konfirmandenunterricht herumgeritten (Galba war evangelisch), aber Galba erinnerte sich nicht mehr, warum. Nur der Vers hatte sich in einem Gedächtniswinkel festgesetzt, vierzig Jahre lang. Für die passende Situation. Alles Fleisch ist Gras. In der Tat. Der Psalmist hatte wohl keine Ahnung gehabt, wie buchstäblich wahr seine Worte waren. Das mit der Blume auf dem Felde … nun ja, darüber hätte man im Falle Roland Mathis streiten können. Oder auch nicht. Auch giftige Pflanzen hatten Blüten.
    Anton Galba untersuchte den Toten. Nirgends Blut.
    Alles Fleisch ist Gras.
    So sei es.

2

    Nathanael Weiß hatte Anton Galba seit dem letzten Klassentreffen nicht mehr gesehen. Das hatte nichts mit gegenseitiger Abneigung zu tun, nur mit der Abneigung, Kontakte zu pflegen, die während der Schulzeit auch nicht bestanden hatten. In dieser Klasse gehörte Galba einer anderen Clique an als Weiß, die Cliquen ließen einander in Ruhe, jeder befasste sich mit den Dingen, die ihm wichtig waren, und kümmerte sich nicht um andere. Nach der Schule lief alles sofort auseinander, die gegenseitigen Abstände vergrößerten sich weit über Sichtweite hinaus – aber zu den Klassentreffen kamen dann doch fast alle und ließen eine Gemeinschaft hochleben, die in dieser Form
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher