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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras
Autoren: Christian Mähr
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nie bestanden hatte. Weiß wie Galba gingen immer hin, sprachen aber nur mit den Mitgliedern ihrer jeweiligen Clique.
    Als sie einander jetzt gegenüberstanden, spürte Nathanael Weiß jene Distanz, die sich bei jedem einstellt, wenn er in die Nähe einer Uniform kommt. Wie eine Verkleidung ist das, dachte er oft; sie wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen, keiner weiß das, es macht die Menschen verlegen. Es gibt kaum noch Uniformen. Geistliche, Musikkapellen und die Exekutive. Militär kommt nur im Fernsehen vor. Es ist ein bisschen wie Fasching, nur überhaupt nicht lustig.
    Sie gaben einander die Hand, Galba deutete auf einen Stuhl. Weiß nahm Platz. Galba fühlte sich verpflichtet, seiner Verwunderung Ausdruck zu geben, also gab er.
    »Ich hätte nicht gedacht, dass du selber … ich meine, ist das üblich? Du bist doch dort der Vize, oder?«
    Weiß nickte.
    »Was ist das für ein Rang?«, fragte Galba, deutete auf die Uniform. »Ich weiß, du hast es mir das letzte Mal gesagt, entschuldige, ich hab’s vergessen, ich hab ja nicht so viel zu tun mit Polizei …«
    »Chefinspektor«, sagte Weiß. »Chefinspektor«, fügte er nach einer Weile hinzu, als Galba nichts geäußert hatte, als sei Chefinspektor das Ergebnis einer langen und verwickelten Überlegung.
    »Und diese … diese Dinger an der Schulter? Dis… Des…«
    »Distinktionen«, sagte Weiß.
    »Drei Sterne? Ich dachte, drei Sterne ist … warte, ein Stern, Leutnant, zwei Oberleutnant, drei … dann schon Hauptmann …«
    »Ja, das wären aber drei Sterne auf rotem Grund. Das sind drei goldene Sterne auf silbernem Grund …«
    »Gibt’s das auch umgekehrt? Drei silberne auf Goldgrund?«
    »Gibt’s. Dann wär ich General.«
    »Toll! Wirst du das noch?«
    Weiß schaute ihn mit ernstem Blick an. Anton Galba wollte schon fragen, ob er etwas Falsches gesagt habe, als Weiß antwortete.
    »Ich glaube nicht. Sicher nicht. Falsche Partei …« Er betrachtete eine Zeitlang das Poster an der Rückwand des Büros, auf dem die Prozessabläufe der ARA dargestellt waren. Galba beobachtete ihn genauer. Weiß kam ihm fremd vor in der Uniform. Nicht wegen des Verkleidungseffekts, wie er eintritt, wenn einem vertraute Personen auf einem Kostümball als Napoleon oder Pirat begegnen. Dort, dachte Galba, ist es der Widerspruch zwischen Sein und Schein; das irritiert, ärgert. Einfach nur affig. Aber hier … da gab es keinen Gegensatzzwischen der Person Nathanael Weiß und der Uniform. Die passte nicht nur, die schien mit ihm verwachsen, als sei er so auf die Welt gekommen. Ausgewachsen und Uniformträger. Der Weiß, der in der Uniform lebte, hatte nichts gemein mit dem Weiß der Schulzeit und den Klassentreffen. Dort war er immer in Zivil erschienen.
    Weiß schien es nicht eilig zu haben. Er versenkte sich in die verschiedenfarbigen Linien auf dem Poster, die Stoff- und Energieströme symbolisierten. Er tut so, als ob ihn das interessiert, dachte Galba. Aber er sitzt zu weit weg von dem Poster. Will er damit beweisen, wie gut er noch sieht? Mit diesen Augen, die Galba nun fixierten, wäre das bemerkenswert. Leicht gerötet, ein Schleier im Blick, als habe er Dinge gesehen, die er nicht hatte sehen wollen. Noch ein Detail fiel ihm nun auf. Das dunkelblaue Jackett war so wolkig gestaltlos wie eine beliebige Freizeitjacke; ob das so gehörte oder nicht, ließ sich nicht sagen. Früher hatte es da aufgesetzte Taschen gegeben und eine Menge Knöpfe und einen körperbetonten Schnitt, nach der Zusammenlegung mit der Gendarmerie war die Polizei europäischen Standards angeglichen worden, weshalb sie jetzt aussah wie irgendein privates Wachkorps. Nur der aufgenähte Adler und die Umschrift »Polizei« machten den Unterschied deutlich.
    »Du hast ganz recht«, sagte Weiß. »Welchen Wert hat eine Uniform, wenn ich sie anschreiben muss?« Er lächelte. Anton Galba saß mit halboffenem Mund da und nickte. Der kann Gedanken lesen. Das ist mir in der Schule nicht aufgefallen. Wenn das so ist, bin ich … Er unterbrach die eigenen Gedanken, die in eine unerfreuliche Richtung abzugleiten drohten, und fragte: »Willst du einen Schluck? Ich hab da …« Er zog aus der linken unteren Schublade eine Flasche heraus. »… einen sehr guten Wermut. Aus dem Urlaub.«
    »Danke, keinen Wermut. Kann den Geschmack nicht ausstehen …«
    »… Oder einen Brandy aus Andalusien …«
    »Das ist viel besser!«
    Weiß ließ sich einschenken, sie stießen an.
    Er hätte doch sagen müssen: Nein
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