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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen
Autoren: Juli Zeh
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konstruktiver Vorschläge zu hören. Jetzt will sie auch noch Günther Beckstein zum Innen- und Wolfgang Gerhardt zum Außenminister machen. Deshalb ist es hundsgemein, dass ich mich darüber freuen muss, wenn sie Kanzlerin wird!
    MT: Müssen Sie ja nicht.
    JuLi: Eben doch. Weil ich irgendwann einmal in einem Deutschland leben möchte, in dem ein weiblicher Kanzler kein besonderes Aufsehen mehr erregt. Ich hasse Quoten und Zwangsemanzipation. Ich will nicht öffentlich angegriffen werden, wenn ich mich selbst als »Jurist« und »Schriftsteller« bezeichne. Ich will lieber über das Programm eines Politikers reden als über sein biologisches Geschlecht. Deshalb ist es wichtig, dass Frau Merkel den Anfang macht und zur Kanzlerkandidatin avanciert – nicht als Quotenfrau, sondern weil sie noch härter, noch konservativer und noch opportunistischer ist als ihre männlichen Kollegen. Im Grunde ist das ein Normalisierungsprozess.
    MT: Ich verrate Ihnen ein Geheimnis. In Wahrheit heißt meine Zeitung Matriarchat Total .
    JuLi: Dachte ich’s mir doch. Jedenfalls will ich trotzdem niemanden wählen müssen, nur weil er, äh, sie eine Frau ist. Ist das verständlich?
    MT: Nein.
    JuLi: Sehen Sie, ich gehöre einer Generation an, die mit einem neuen, ja, man könnte sagen: beinahe ohne Rollenverständnis aufgewachsen ist. Als Kind habe ich weder mit Puppen noch mit Waffen gespielt. Mein Lieblingsspielzeug war ein Bagger. In der Schule führte ich eine Kinderbande und verprügelte aufmüpfige Klassenkameraden. Ich habe zwei juristische Staatsexamen und besiege noch heute Schriftstellerkollegen im Armdrücken. Alice und ihren Schwestern bin ich wirklich dankbar dafür, was sie quasi pränatal für mich getan haben. Aber das verpflichtet mich nicht, auf leeren Schlachtfeldern zu kämpfen.
    MT: Nehmen wir folgenden Fall: Eine Frau arbeitet hochqualifiziert in ihrem Job. Sie ist erfolgreich und fleißig. Trotzdem ziehen bei allen Beförderungsrunden die männlichen Mitbewerber an ihr vorbei. Soll sie da nicht wütend werden?
    JuLi: Theoretisch schon. Nur ist mir das nicht passiert. Es ist Ihnen nicht passiert, und wir kennen auch niemanden, dem es passiert ist.
    MT: Woher wollen Sie das wissen?
    JuLi: Alle, die öffentlich über Benachteiligung reden, sind selbst nicht benachteiligt. Sonst würde man sie nicht fragen.
    MT: Das ist Zynismus.
    JuLi: Das ist Diskurskritik. Ab einem gewissen Punkt gibt es nichts Diskriminierenderes als Diskriminierungsdebatten.
    MT: Wie finden Sie eigentlich diese jungen, unpolitischen, egozentrischen Individualisten, die immer glauben, die Welt sei in Ordnung, solange es ihnen selber gut geht?
    JuLi: Touché ! Aber ich weiß eine politisch korrekte Antwort: Natürlich gibt es in Sachen Gleichberechtigung noch eine Menge zu tun. Aber diese Fragen lassen sich am besten aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Wenn unser Land Kinderbetreuung und flexible Arbeitszeiten nicht in den Griff bekommt, wird es seine Nachwuchsschwierigkeiten nicht lösen, das Rentensystem nicht retten und die Arbeitslosenzahlen nicht in den Griff bekommen. Wenn es keine Frauen in Führungspositionen holt, wird es im internationalen Kompetenzvergleich zurückfallen. Und so weiter.
    MT: Wird Frau Merkel diese Probleme in Angriff nehmen?
    JuLi: Ich fürchte, in diesem Sinn wird sie eher ein Kanzler als eine Kanzlerin.
    MT: Wenn ich Sie bis hierhin richtig verstanden habe, dürfte Sie das eigentlich nicht stören?
    JuLi: Nein. (hustet) Doch. Also … Die Frage verwirrt mich. Ich wähle den Publikumsjoker …
    MT: Mehr als die Hälfte der deutschen Frauen würden sich für Frau Merkel als Kanzlerin entscheiden.
    JuLi: Das ist schon fast eine klassische Tragödie. Sagen wir so: Wer erwartet, dass weibliche Hände immer sanfter, einfühlsamer und frauenfreundlicher regieren, der glaubt auch an den Osterhasen.
    MT: Wäre Ihnen das Stoiber … ich meine: Herr Stoiber als Kanzlerkandidat lieber?
    JuLi: (entsetzt) NEIN! – (nachdenklich) War das eine Fangfrage?
    MT: Ja.
    JuLi: Dann habe ich bestanden? Sie halten mich jetzt nicht mehr für eine Frauenfeindin?
    MT: Ich verrate Ihnen noch ein Geheimnis …
    JuLi: Ihre Zeitung heißt in Wahrheit Müntes Talfahrt ?
    MT: Wie haben Sie das erraten?
    JuLi: Weibliche Intuition.
    MT: Was unsere Leser und Leserinnen interessieren würde: Soll es mehr Frauen geben in der Politik?
    JuLi: (seufzt) Wissen Sie … (setzt eine Intellektuellenmiene auf und zündet sich eine Zigarette an) Es ist ja
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