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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen
Autoren: Juli Zeh
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individuellen und kollektiven Sicherheit schüren Wir-regeln-das-Gesten von Seiten der Politiker Erwartungshaltungen in der Bevölkerung, die regelmäßig zu Enttäuschungen, Abwahlverhalten und neuen Allmachtsgesten führen. Man muss kein Meinungsforscher sein, um zu vermuten, dass Helmut Kohl vor sieben Jahren an (nicht) blühenden Landschaften und Gerhard Schröders zweite Legislaturperiode an der (nicht) halbierten Arbeitslosigkeit gescheitert sind. Eine Fortsetzung dieses Kreislaufs bindet die Unterstützung der Bürger für eine bestimmte politische Richtung eindimensional an das ökonomische Auf und Ab. Nicht gerade ein Garant für politische Stabilität.
    Und schließlich steigert die rhetorische Konzentration auf Arbeitsplätze-Schaffen und Wachstum-Fördern die ohnehin vergleichsweise hohe Staats- und Obrigkeitsgläubigkeit in diesem Land. Die Nachteiligkeit unseres treuherzigen Blicks nach oben für das gesellschaftliche und ökonomische Fortkommen ist gerade in letzter Zeit verstärkt ins Bewusstsein gelangt. Solange aber durch wirtschaftliche Versprechungen der Politiker und die einfordernde Haltung der Medien der Eindruck erzeugt wird, Die-da-oben könnten und müssten die ökonomische Sache für uns in den Griff kriegen, wird die gebetsmühlenartige Aufforderung zu mehr Eigenverantwortung keine Früchte tragen.
    Das Beklagenswerteste am zurückliegenden Wahlkampf ist, dass er hochbeinig über wichtige Themen hinweggestiegen ist, deren Behandlung vielleicht eine klare Entscheidung ermöglicht hätte. Außenpolitische Grundsatzentscheidungen, innere Sicherheit und Atomausstieg werfen nach wie vor Fragen mit viel Streitpotential und gesellschaftlicher Bedeutung auf. Es bleibt zu hoffen, dass wenigstens die Koalitionsgespräche nicht an hochstilisierten Unvereinbarkeiten in einem Bereich scheitern, in dem die Spielräume für Kooperation in Wahrheit am größten sind. Das wäre nicht nur paradox. Es wäre fatal.
    2005

Oma stampft nicht mehr
    E inmal pro Woche hat mein Freund F. seinen philosophischen Abend. Ich habe gerade das Radio ausgeschaltet und will mich über die Debatte zur Rentenreform ereifern, als er mir mit einem Gleichnis zuvorkommt.
    »Du kennst das bestimmt«, sagt er. »Die Pfanni-Familie sitzt um den Abendbrottisch. Papa ist nach einem Neun-Stunden-Tag aus dem Büro zurück und stopft erwartungsvoll die Zipfel der Serviette in den Ausschnitt. Mutti verdient für Zweitwagen und Zweitkind das Zweitgehalt und ordnet Blumen in einer Vase. Da platzt der Jüngste herein und ruft: Oma stampft nicht mehr! – Die Eltern machen große Augen, die Tochter lässt ihre Zeitschrift sinken. Bevor die Situation eskalieren kann, erscheint Oma im Türrahmen. Mit rosigen Wangen und einer Schüssel Kartoffelbrei.«
    Schmeckt fast wie selbstgestampft. F. klopft mir auf die Schulter.
    »Denk mal darüber nach«, sagt er und wendet sich wieder seinen Kochtöpfen zu.
    Ein paar Minuten später fällt mir ein, was Filosof F. damit sagen wollte. Der Unterschied zwischen Pfanni-Familie und uns besteht darin, dass Oma nicht zu Hause wohnt. Wenn sie stampft, dann höchstens mit dem Fuß wegen permanenter Rentenkürzungen.
    Einst war Altersvorsorge eine Sache der Drei-Generationen-Familie. Während die zweite Generation arbeitete, passte die erste auf die dritte auf und kochte Abendessen für alle. Das generationenvertragliche do ut des bestand im Austausch von Haushaltshilfe gegen Kost, Logis und Pflege. Wenn eine Seite mehr leistete als die andere, führte das nicht zum Bruch des Vertrags. Denn im kleinen Kreis wirken Gefühle. Eine geliebte Person lässt man nicht im Stich, und zwar aufgrund und nicht nur trotz ihres Alters und ihrer Schwäche.
    Im Grunde war die Pfanni-Familie schon in den achtziger Jahren ein Anachronismus. Längst hatte die Familienverschlankung das private Abkommen zwischen Jung und Alt zum Kollektivvertrag gemacht. Emotionale Bindungen spielen im überpersönlichen Rahmen keine Rolle mehr. Wenn’s gut läuft, übernehmen Ethik und Moral ihre Funktion.
    F. schiebt mich zur Seite und prüft die Festigkeit der Kartoffeln mit einer Gabel.
    »Wer dreißig Jahre alt ist und über Altersvorsorge nachdenkt, ist doch eigentlich ein Spießer«, sagt er. »So einer begreift auch problemlos die Werbeprospekte der LBS und hebt seine Notgroschen im Geheimfach einer Buchattrappe auf.«
    Der um vierzig Jahre vorweggenommene Leidensdruck scheint ja beachtlich zu sein, findet F., wenn wir uns mit solchen
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