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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen
Autoren: Juli Zeh
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nicht so, dass Politik Spaß macht. Manchmal denke ich, wir können froh sein, dass sich noch ein paar dickfellige Kerle finden, die die Dreckarbeit erledigen. Wenn die bereit sind, sich für einen anachronistisch-maskulinen Machtbegriff bis ganz nach oben zu schinden, dann lassen wir sie doch einfach. Bald ist das Regieren auf nationaler Ebene ohnehin nur noch ein Verwaltungsjob. Die wirklich intelligenten, wirklich mobilen, wirklich kreativen Menschen gehen einstweilen nach Brüssel. Oder in die Wirtschaft.
    MT: In deutschen Aufsichtsräten liegt der Frauenanteil bei drei Prozent.
    JuLi: Ich meinte die ausländische Wirtschaft. Und was die Politik betrifft – sogar Pakistan, Indonesien und die Türkei hatten längst Frauen als Regierungschefs, und das sind muslimische Länder. Wenn Deutschland das Merkel braucht, um seine Rückständigkeit zu überwinden, dann kann ich nur sagen: Jedes Land kriegt die Staatsmänninnen, die es verdient.
    MT: Jetzt möchte ich Ihnen noch die vier unoriginellsten Fragen zum Thema »Merkels Kanzlerkandidatur« stellen. Sind Sie bereit?
    JuLi: Wenn Sie es sind.
    MT: Ist Angela Merkel ein role model ?
    JuLi: In gewissem Sinne, ja. Es gibt nämlich nur zwei Geschlechter. Auf der einen Seite Karrierefrauen und -männer. Auf der anderen Seite der Rest der Menschheit.
    MT: Können Sie sich mit Frau Merkel identifizieren?
    JuLi: Da würde ich mich sogar Barbie näher fühlen.
    MT: Das wird unsere Leserinnen freuen. Unser Magazin heißt nämlich …
    JuLi: Miezen und Tussen , ich weiß.
    MT: Was würden Sie von Frau Merkel wissen wollen, wenn Sie ihr eine Frage stellen dürften?
    JuLi: Ob es ihr nicht peinlich ist, andere Leute zu kritisieren, während sie selbst keine besseren Ideen hat.
    MT: Welche drei Politiker würden Sie mit auf eine einsame Insel nehmen?
    JuLi: Gustav Stresemann, Winston Churchill und Willy Brandt.
    MT: Die sind ja alle tot.
    JuLi: Eben.
    MT: Können Sie zum Abschluss etwas Positives über Frau Merkel sagen?
    JuLi: Hmm … Wenn ich mich zwischen einer Frau Merkel und einem Herrn Merkel entscheiden müsste und sie wären identisch bis auf das Geschlecht – dann würde ich Frau Merkel wählen!
    MT: Nur unter diesen Umständen?
    JuLi: Nur unter diesen Umständen.
    MT: Wahrscheinlich danken wir Ihnen für dieses Gespräch.
    Das fiktive Interview führte Juli Zeh mit Juli Zeh
    2005

Deutschland wählt den Superstaat
    D iese Wahl bot ein Fegefeuer der Paradoxien. Eine Partei wird abgewählt, obwohl sie noch gar nicht regiert hatte. Eine andere zieht ins Parlament ein, obwohl sie nicht regieren will. Ein Politiker, der keine Regierungsmehrheit mehr hat, behauptet, dennoch Kanzler zu bleiben. Und der gelbstrahlende Gewinner der Wahl ist gleichzeitig ihr größter Verlierer. Deutschland wählt den Superstaat.
    Das Ergebnis des heißen Sonntags spiegelt eine enervierende Unübersichtlichkeit, die, allen Ankündigungen einer bahnbrechenden Richtungsentscheidung zum Trotz, auch die Debatten der vorangegangenen Wochen und Monate deutlich bestimmte. Da beklagte man den innerdeutschen Stillstand und schimpfte zugleich auf Veränderungen in den sozialen Sicherungssystemen. Man fürchtete sich vor sozialer Kälte und votierte trotzdem für die CDU. In Wahlsendungen klatschte das Publikum politischen Diskutanten Beifall, die mehr oder weniger deutlich den Wegfall von Privilegien, weniger Arbeitnehmerschutz und eine Angleichung von Westlöhnen an das Ostniveau versprachen. All diesen Merkwürdigkeiten ist eins gemeinsam: Sie sind nicht die Auswirkungen eines Kampfes widerstreitender Ideen, schon gar nicht des Ringens um eine Richtungsentscheidung, sondern das Ergebnis einer großen, ja, flächendeckenden Einigkeit. Die dazugehörigen Leitmotive sind schnell benannt. Deutschland braucht mehr Arbeitsplätze, deren Entstehen durch Wachstum zu erreichen ist. Deshalb müssen gewisse ökonomische Liberalisierungen eingeleitet werden, ohne eine menschenwürdige Grundsicherung zu gefährden. – Solchen und ähnlichen Aussagen würden wohl alle Parteien (vielleicht mit Ausnahme der regierungsunwilligen Linkspartei) zustimmen; aus den meisten Mündern hat man sie in der einen oder anderen Form gehört. Das Problem besteht nicht etwa darin, dass diese Annahmen falsch wären. Der Grund für die gegenwärtige Verwirrung liegt vielmehr im krampfhaften Festhalten an ihrer Richtigkeit.
    Hinter dem beschriebenen Querschnittseinverständnis steht ein noch tiefer reichender Konsens. Er betrifft die
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