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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen
Autoren: Juli Zeh
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wirtschaftlichen (und damit auch des politischen) Systems ist, wird das geheuchelte Bemühen um kosmetische Verbesserungen die Spannungen eher verschärfen als lösen. Man liest, die Menschen im Land seien verunsichert und hätten Angst. Wenn das stimmt, liegt etwas im Argen, das über Hartz IV und Ackermanns Renditeerwartungen hinausreicht. Wir, das heißt unsere Gesellschaft als Ganzes und jeder Einzelne von uns, sind kürzlich in eine jener Identitätskrisen geraten, die Jahrhundertwenden geradezu typischerweise mit sich führen. In solchen Situationen können eine Menge Dinge auf den Prüfstand gehören – Menschenbild, Wirtschaftssystem, Weltordnung, der Zuschnitt unserer parlamentarischen Demokratie. Und nicht ohne Grund: Änderungen der Verhältnisse, die nicht rechtzeitig zur Kenntnis genommen werden, tendieren zu unangenehmen Überraschungen.
    Münteferings ungelenker Vorstoß hat immerhin einen ersten Zipfel des eigentlichen Themas gepackt. Wenn wir daran in die angedeutete Richtung – unter Zuhilfenahme der einen oder anderen jüngeren Hand? – kräftig ziehen, verwandelt sich das fruchtlose Zerlegen des Meinungsspektrums vielleicht noch in das, was wir wirklich gebrauchen könnten: eine gemeinsame Standortbestimmung des gegenwärtigen Menschen und seiner Rolle in der (deutschen) Gesellschaft und der (globalisierten) Welt. Dann wäre er gelungen, fernab von Heuschrecken, NRW-Wahl und neuem Klassenkampf: Der Kreis der Quadratur.
    2005

Sind wir Kanzlerin?
    E in belebtes Café im Zentrum einer beliebigen europäischen Großstadt. Die Jung-Literatin (JuLi) sitzt in einer Ecke und rührt in einer großen Tasse Milchkaffee. Ihre Beine, die in abgetragenen Jeans stecken, hat sie übereinander geschlagen. Auf der anderen Seite des kleinen Tischs sitzt eine Journalistin im eleganten Kostüm und trinkt Tee. Ihr Haar ist sorgfältig zu einem blonden Helm frisiert. Irgendwie erinnert die Journalistin ein wenig an Margaret Thatcher (MT).
    MT: Frau Zeh, Sie sind eine junge Frau …
    JuLi: Dafür kann ich nix.
    MT: … mit einigem beruflichen Erfolg.
    JuLi: Ersparen Sie mir die Frage. Nein, ich habe mich noch nie im Leben diskriminiert gefühlt.
    MT: Gehen wir zur Vermeidung des Dauerkonjunktivs einmal davon aus, dass Angela Merkel die nächste Kanzlerin wird.
    JuLi: (erleichtert) Ach so, darum geht’s!
    MT: Wie finden Sie das?
    JuLi: Was? Eine deutsche Kanzlerin oder Angela Merkel?
    MT: Ist das nicht dasselbe?
    JuLi: Nein. Wissen Sie, als Helmut Kohl die heutige CDU-Vorsitzende aus dem ostdeutschen Zauberzylinder zog, taufte er sie »Das Mädchen«. Für mich und viele andere war sie von Anfang an »Das Merkel«. Konsequenterweise müsste das Merkel auch das Kanzler werden. Klingt das gemein?
    MT: Ziemlich. Hat man Sie schon mal »Das Zeh« genannt?
    JuLi: Nein, das wäre grammatikalisch falsch. In der Schule nannte man mich »Der Zeh« – entweder kleiner Zeh oder großer Zeh, je nachdem, welches Fach gerade unterrichtet wurde.
    MT: Hängen Sie der These an, nach der es in Wahrheit drei Geschlechter gibt: Mann, Frau und Karrierefrau?
    JuLi: Nein … Ich glaube nicht.
    MT: Aber Sie sprechen Frauen in Führungspositionen die Weiblichkeit ab?
    JuLi: Das fragen ausgerechnet Sie?
    MT: Wie bitte?
    JuLi: Entschuldigung … Sie erinnern mich an jemanden. Wie heißt Ihre Zeitung noch mal?
    MT: Muttis und Tanten .
    JuLi: Wirklich? Das muss ein Deckname sein. – Aber zurück zum Thema. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, eine öffentliche Protestnote gegen die Schizophrenie der Lage einzureichen: Über eine Kanzlerin würde ich mich durchaus freuen – aber nicht über diese! Das einzig Gute an Frau Merkel ist nämlich, dass sie keinen Doppelnamen trägt. Däubler-Gmelin, Leutheusser-Schnarrenberger oder sogar Wieczorek-Zeul wären mir trotzdem lieber.
    MT: Was spricht gegen Angela Merkel?
    JuLi: Vor allem Angela Merkel. Eine Frau, die …
    MT: Es gibt da ein merkwürdiges Phänomen: Emanzipierte Frauen mögen emanzipierte Frauen nicht. Ich glaube, das heißt Stutenbissigkeit …
    JuLi: Wieso? Haben Sie was gegen mich?
    MT: So war das nicht gemeint.
    JuLi: Jetzt lassen Sie mich erst mal ausreden. Eine Frau, die kurz vor dem Irakkrieg nach Washington fährt, um George Bush die moralische Unterstützung der deutschen Opposition zu versprechen, hat sich auf ewig diskreditiert. Und abgesehen davon, dass Frau Merkel ihr Meinungsfähnchen nach jedem Umfragewind hängt, sind aus ihrem Mund nur Nörgeleien statt
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