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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen
Autoren: Juli Zeh
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sein symptomatischer Charakter für den Zustand unseres politischen Meinungsspektrums. Ein für seinen Konservatismus berühmter Professor wirft dem Marx zitierenden Müntefering aufgrund einer missglückten Metapher nationalsozialistisches Gedankengut vor. Kürzlich erst hat derselbe Professor die Folter im Kampf gegen mutmaßliche Terroristen für legitim erklärt. Der sozialdemokratische Münte hingegen verlangt plötzlich »Recht und Ordnung« auf den Märkten und ein Vorgehen »mit aller Härte« gegen die Beschäftigung osteuropäischer »Billigarbeiter« auf deutschen Schlachthöfen (sic!). Gleichzeitig gehört Münte einer Partei an, die eben erst durch Steuerbefreiungen zu einem rasanten Anstieg der Private-Equity-Praktiken von Firmenaufkäufern beigetragen hat und die seit Jahren an einer Verbesserung des »Standorts Deutschland« arbeitet – ein anderes Wort für kapitalismusfreundliche Wirtschaftspolitik. In dieser Partei wiederum finden seine Ansichten ebenso viele Freunde wie Feinde, und Gleiches gilt selbstverständlich in der CDU. Zu guter Letzt komplettiert das hauptberufliche Republikgewissen den Meinungswirrwarr mit der ebenso wohlklingenden wie inhaltslosen Forderung nach einer parlamentarischen Kontrolle der Märkte. Wenigstens bleibt Grass sich selber treu.
    Markanterweise gilt für die Gesamtdiskussion: Altersfreigabe ab 50. Keiner der Disputanten entstammt der jüngeren Generation. Die steht stumm vor Staunen daneben und fragt sich mit offenem Mund: Glaubt hier wirklich irgendjemand, gekürzte Managergehälter würden die Arbeitslosenzahlen senken? Wird ernstlich behauptet, unser vom Wachstum abhängiges Wirtschaftssystem könne erhalten werden, wenn man gleichzeitig den Leithammeln das Verdienen und den größten Firmen das Gesundschrumpfen verbietet? Oder geht es nur darum, auf der Suche nach Ursachen für das Elend der Nation die sprichwörtliche Dummheit der Politiker gegen die ebenso sprichwörtliche Rücksichtslosigkeit der Wirtschaftsbosse auszutauschen?
    Es ist nicht einmal so, dass bloß die zyklisch wiederkehrende Jammerei der Elterngeneration über den bösen Kapitalismus nerven würde. Die Debatte bezieht sich dem Ansatz nach auf wichtige Fragen, bleibt aber noch vor der Schwelle zum Eigentlichen in oberflächlichen Forderungen und Schuldzuweisungen stecken. Und es ist schwierig, sich in einer Diskussion zurechtzufinden, in der niemand, auch nicht Müntefering, die geringste Ahnung hat, was er will.
    Versucht man nämlich, aus der Kapitalismuskritik praktische Konsequenzen zu ziehen, die über das leerformelhafte Einfordern von »mehr ethischer Verantwortung bei Unternehmern« hinausgehen, ergibt sich ein merkwürdiges Bild. Wir bräuchten Einkommensregulierungsgesetze für Spitzengehälter. Ein Abwanderungsverbot für deutsche Firmen, ein Mitarbeiterentlassungsverbot, vielleicht auch Importbeschränkungen für Billiggüter aus China. Weiterhin Ordnungsgesetze für die Kreditpolitik der Banken, ein Börsenspekulationsverbot sowie ein Verbot der Einstellung ausländischer Arbeitskräfte aus Lohnkostengründen. Alle diese Gesetze kann man erlassen – wenn man vorher einen Teil der Grundrechte abschafft, die Europäische Union auflöst und sich klar macht, dass unser ökonomisches System, egal ob Turbokapitalismus oder soziale Marktwirtschaft, darunter zusammenbrechen würde. Das will niemand. In Wahrheit will man nicht einmal einen ökonomisch-deutschen Sonderweg. Was wollt ihr dann? – Ratlose Gesichter. Vielleicht Maoam.
    Wirtschaftsnationalismus, Protektionismus und eine Stärkung staatlicher Eingriffsmacht in die Handlungsfreiheit des Einzelnen – die Kapitalismusdebatte macht die Rechts-Links-Schwäche im politischen Meinungsbild, Papa Marx hin oder her, endgültig zum vorherrschenden Normalzustand. Mit Heuschreckenmetaphern und an den Haaren herbeigezogenen Antisemitismusvorwürfen hat dieser Befund nicht das Geringste zu tun. Erst wenn man im oben gezeichneten Quadrat das »L« und das »R« ausradiert und durch ein »F« für Freiheit und ein »S« für Sicherheit ersetzt, lässt sich die Debatte in besser unterscheidbare Meinungslager teilen. Und das gilt, übrigens, nicht nur für diese. Ob Anti-Terror-Kampf vs. Datenschutz, Softwarepatente vs. open source , physische Selbstbestimmtheit vs. Gesundheitspolitik oder Sterberecht vs. Euthanasieverbot – hinter vielen politischen Diskussionen der Gegenwart verbirgt sich der Widerstreit zwischen dem Konzept
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