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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen
Autoren: Juli Zeh
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individueller Freiheit auf der einen und jenem von staatlich herbeigeführter Sicherheit und Kontrollierbarkeit auf der anderen Seite. Diese beiden Werte ergänzen und begrenzen sich; bis zu einem gewissen Grad schließen sie sich sogar gegenseitig aus. Es scheint an der Zeit, sie zu einem neuen Ausgleich zu bringen. Solange der Kapitalismusstreit sich nicht selbst an dieser Wurzel packt, wird er unfruchtbar bleiben. Hinter dem Mangel an konkreten Vorschlägen steckt wie so oft das Fehlen einer grundlegenden Idee.
    Denn natürlich geht es nicht um die genaue Höhe von Managergehältern. Die gegenwärtige Kapitalismuskritik ist bereits ein Kind der populärer werdenden Globalisierungsgegnerschaft. Auch hinter deren notorischer Schwammigkeit verbirgt sich die ungelöste Frage, wie unsere moderne Welt optimaler- oder gar utopischerweise gestaltet sein soll. Antworten auf derart grundsätzliche Fragen sind nicht durch das Erstellen von Sündenbocklisten, durch Einkommenskabbala und Meinungsumfragenpoker zu gewinnen. Sondern nur durch eine Reflexion auf unser Welt- und Menschenbild.
    Es ist nicht der Mensch als Teil eines unmündigen, von Verkaufsstrategien manipulierten, ausgebeuteten und entmenschten Konsumentenkollektivs, der unsere Epoche prägt. Auch nicht der schafdumme Endverbraucher, den man zum Schutz vor sich selbst mit Verboten umstellen und erst wieder lehren muss, was der Sinn des Lebens ist. Viel eher leben wir doch in einem Zeitalter, das durch ein hohes Maß an allgemeiner Bildung und Aufgeklärtheit sowie durch eine weitgehende Verwirklichung von Freiheitsidealen gekennzeichnet ist. Aus der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen folgt ein breit angelegter Individualismus, der (leider?) auch die ideellen Grundlagen für Mitgefühl, Verzichtwillen und eine Philosophie des Teilens schwinden lässt. Überindividuelle Wertvorstellungen, die sich aus den Ideen von Religion, Vaterlandsliebe oder Familie ergeben und das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gemeinschaft befördern, haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Bedeutung verloren.
    Über Jahrzehnte hinweg wurde von den Menschen in allen Lebensbereichen Selbstbestimmtheit und Eigeninitiative verlangt. Das Ideal der Mobilität, ohne das der internationalisierte Kapitalismus nicht möglich wäre, wird durch einen lust- und leistungsorientierten Typus verkörpert, den man bis heute auf jedem Werbeplakat bewundern kann. Im Gegensatz zur Mobilität ist Moralität eine Form der Verantwortung für das eigene Handeln in Bezug auf andere. Sie gründet auf eine innere und äußere Verwurzelung in Kontexten, die nicht nur das Individuum selbst betreffen. Mobilität und Moralität sind keine Partner, sondern Kontrahenten. Das soll nicht heißen, dass ein Mensch unter keinen Umständen zugleich mobil und moralisch sein könnte. Für jenen Typus, den wir über so lange Zeit hinweg allein nach den Kriterien von Freiheitstauglichkeit und Beweglichkeit bewertet haben, stellt es jedoch eine Überforderung dar.
    Anders gefragt: Wollen wir diesen Typus noch? Oder ist es jetzt so weit, dass wir verloren gegangene Werte durch staatliche Zwangsmechanismen ersetzen müssen? Wenn ja – geht das überhaupt? Und was bedeuten in diesem Zusammenhang die Grundrechte? Spielen sie eine untergeordnete Rolle, weil wir an einen Punkt geraten, an dem wir den Staat vor dem Bürger schützen müssen und nicht mehr den Bürger vor dem Staat? Sehnen wir uns nach einer kleinen, sicheren Welt, oder arbeiten wir weiter an dem Versuch, die Ränder der Chancengleichheit (und damit des Risikobereichs) möglichst weit auszudehnen, auch über staatliche Grenzen hinaus? Und wären wir bereit, für eins unserer alten oder neuen Ideale in materieller Hinsicht etwas aufzugeben? Wie wollen wir denn nun sein: stark, schön und erfolgreich – oder edel, hilfreich und gut?
    Quod esset disputandum . Keine dieser Fragen wird bislang von der Kapitalismusdebatte vertieft diskutiert. Angesichts der allgemeinen Überzeugung, vielleicht in keiner guten, jedoch in der besten aller denkbaren Staatsformen zu leben, ist das möglicherweise verständlich. Man kann aber nicht Speck haben und das Schwein behalten – nicht die Freiheiten des Kapitalismus genießen und gleichzeitig nach einer sicheren Kuschelwelt verlangen. Wenn der aktuelle Streit, wie seine rasante Ausweitung vermuten lässt, tatsächlich Ausdruck eines tief- und weitgehenden Unbehagens gegenüber dem »Ob« oder »Wie« unseres
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