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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen
Autoren: Juli Zeh
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Themen überhaupt beschäftigen. Schon seit einem Jahrzehnt flirte das Beitragsniveau mit der Zwanzig-Prozent-Marge. An der Beitragshöhe könne es also in Wahrheit nicht liegen, dass sich nun auf einmal innerhalb der Regierungspartei jugendliche Widerstandsgruppen gegen die Rentenlast bilden. Auslöser der Empörung sei allein der Eindruck mangelnder Gerechtigkeit.
    »Statt die wenig vermehrungsfreudige dritte Generation unter Naturschutz zu stellen, lädt man die umgedrehte demographische Pyramide auf unsere schmalen Schultern. Zwar brauchen sich Angehörige einer Altersgruppe, die nicht mal die Arterhaltung auf die Reihe kriegt, über leere Rententöpfe nicht zu beschweren. Aber andererseits: Wann sollen wir Kinder zeugen, geschweige denn großziehen, wenn es Rentenbeiträge von zwanzig Prozent aufzubringen gilt?«
    Mein Freund F. kennt eine ebenso einfache wie sarkastische Lösung: Holt die Pfanni-Oma zurück, dann habt ihr Zeit, um für eine Altersvorsorge zu arbeiten, die in der Drei-Generationen-Familie ohnehin keiner braucht.
    Soweit der logische Zirkelschluss. F. gießt heißes Wasser ab.
    Zur Großfamilie will niemand zurückkehren, und für umgekehrte Geburtenkontrolle in Form von Kinderpflicht ist unsere Gesellschaft zu demokratisch. Das bedeutet: Immer weniger junge Menschen haben die Versorgung von immer mehr alten Menschen sicherzustellen. Das Aufbegehren gegen eine solche Situation mag verständlich sein, wenn man es vom Standpunkt ökonomischer Tauschgerechtigkeit betrachtet. Aber wer hat es eigentlich erfunden, das schiefe Bild vom Generationenvertrag?
    Außerhalb von Familienstrukturen ist das Verhältnis zwischen Jung und Alt kein synallagmatisches mehr. Der Generationenvertrag ist vielmehr eine Eimerkette: Was wir heute an die Älteren zahlen, hoffen wir später von den Jüngeren zurückzubekommen. Daran ändert auch die untergeschobene, pseudomoralische Erklärung nichts, unsere Großeltern hätten den bundesrepublikanischen Wohlstand erarbeitet und sich damit ihre Altersvorsorge redlich verdient. Würden wir sie denn andernfalls verhungern lassen? Sind ökonomische Prinzipien so tief in unsere Vorstellungen eingedrungen, dass wir uns gleich ungerecht behandelt fühlen, wenn das Prinzip von Geben und Nehmen einmal in Schieflage gerät?
    Verzerrte Antworten auf die Gerechtigkeitsfrage sind bei diesem Denkansatz vorprogrammiert. Im Rentendilemma gibt es keine Gewinner und Verlierer und erst recht keinen Schuldigen. Den alten Menschen ist ebenso wenig vorzuwerfen, dass sie Unterstützung brauchen, wie den jungen, dass sie nicht geboren werden. Natürlich lässt sich der Sündenbock Politik in allen Lebenslagen etwas vormeckern: Das gegenwärtige Problem war schon vor mindestens zwei Jahrzehnten absehbar. Die Chancen zu rechtzeitigen, substantiellen Änderungen wurden verpasst, Unzufriedene mit kosmetischen Korrekturen ruhig gestellt. Die einzig sinnvolle Konsequenz aus dieser Erkenntnis bestünde darin, Erwartungen an gegenwärtige Reformvorhaben nicht zu hoch zu schrauben.
    F. verbrennt sich beim Schälen heißer Kartoffeln die Finger und wird wütend: Ob die Grünen dem Regierungsentwurf zustimmen oder nicht, ob die Regierung als Gegenleistung eine mehr oder weniger verbindliche Zusage späterer Einsparungen abgibt – das wird weder bestehende Probleme lösen noch dem verfehlten Verlangen nach Generationengerechtigkeit Genüge tun. Am Ende geht es nur um eins: Die Versorgung alter Menschen muss sichergestellt werden, und zwar immer zum jeweils gegenwärtigen Zeitpunkt. Das gebietet die Menschenwürde, und über die zugrunde liegende Moralvorstellung bestand allzeit Konsens. In der verschärften Diskussion um steigende Rentenbeiträge greift der inflationär verwendete Gerechtigkeitsbegriff die ethische Einstimmigkeit an. Wenn das kollektive Verantwortungsgefühl nicht mehr ausreicht, um den Bruch im vermeintlichen Tauschgeschäft zu kitten, wird die Altersfürsorge sukzessive in die Kompetenz jedes Einzelnen entlassen werden. Und fertig. Verdienen wird auch daran keine der beteiligten Seiten. Sonst hieße es ja auch »Ernte« und nicht »Rente«.
    F. schaut mich an, die Hände in einem Berg Kartoffelschalen vergraben.
    »Themawechsel«, sagt er. »Wo ist eigentlich unser Kartoffelstampfer?«
    2002

Verbotene Familie
    E in durchschnittlicher Sonntagmittag, eine deutsche Durchschnittsfamilie. Vater entspannt sich beim Rasenmähen und verfeuert Gartenabfälle in der Grundstücksecke. Mutter radelt
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