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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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deshalb nicht straucheln, oder nicht an das oder das denken, sondern an dies oder jenes, und dabei noch die Stufen sehen, statt sie nicht zu sehen. Irgendein Tod wird schon auch dann der Tod sein. Wenn nicht früher, dann später. Ein Eingang muss ja der Eingang sein. Für alle, alle, alle und jeden und jede muss ein Eingang da sein. Dann hat diese Unterwelt wohl nur Löcher? Und sonst gar nichts? Hier weht ein anderer Wind. Hat nichts, was einen davon abhält, früher oder später, hier oder da, mitten hinein zu straucheln, zu taumeln, zu fallen, zu stürzen oder zu sinken?
    Im Herbst neunundachtzig fällt die Wand zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil Deutschlands, umgerannt wird sie, übersprungen, niedergemacht, die Volksmenge, die in Aufruhr geraten ist, stürzt aus dem eigenen Land hinaus und sinkt den kapitalistischen Brüdern und Schwestern in die Arme, Freudentaumel, vergisst sich, ein ganzes Staatswesen entleert sich, übergibt sich, wem eigentlich übergibt man sich, wenn man sich übergibt, übergibt die Gewalt, die Staatsgewalt, und sackt dann in sich zusammen, ist hin. Jetzt weht ein anderer Wind, was bisher ein Leben hieß, heißt nun ein vierzig Jahre langes Warten, das sich endlich gelohnt hat, was ist ein Fünfjahrplan? Alles heißt jetzt anders, neue Ufer brechen über die Menschen herein, die Worte, die schon lang nicht mehr genauso wirklich waren wie eine Tüte Mehl oder ein Paar Schuhe, haben versagt, außerdem wirtschaftlich völlig unhaltbar. Zwanzig Sorten Butter, wo früher nur eine, die Miete nimmt man mal zehn, im Theater werden andre Stücke gespielt, die Russen machen ihre Kasernen zu und verkaufen die Pelzmützen, Uniformjacken und die Orden ihrer Ahnen aus dem Großen Vaterländischen Krieg auf dem Flohmarkt, Straße des 17. Juni. Am 17. Juni dreiundfünfzig empörten die Arbeiter im Osten Berlins sich gegen die zu hohen Normen, kamen aber nicht durch, indes bewohnte der Bergarbeiter und Aktivist der ersten Stunde, Adolf Hennecke, Normenbegründer, eine Villa in Pankow. Weg mit den Privilegien! Neunzehnneunzig lehnen die, die bis dahin Minister waren, arbeitslos jetzt, am Gartenzaun und halten mit Rentnern, die ihren Hund ausführen, einen Plausch. Ob sie ihr Grundstück behalten dürfen, wird gerade geklärt. Das Volk holt sich im Westen das Begrüßungsgeld ab und ist von da an ein Westvolk. Der Osten nichts weiter mehr als eine Himmelsrichtung. Der Verlag, der die Bücher der verdienten Autorin verlegt hat, geht pleite. Die Leser haben jetzt andres zu tun als zu lesen, sie wollen erst einmal auf die Kanaren. Es genügt nicht, achtzehn zu sein. Das Jahrhundert, das früher einmal so jung war, ist nun sehr alt. Sehr alt ist auch die Mutter.
    Der Sohn besucht sie am Sonntag um vier.
    Sie sagt, sie merke, dass sie Sachen verstecke. Dass sie sich nicht mehr an alles erinnere, was sie tue. Dass sie nicht mehr sie selbst sei.
    Die Haushälterin bringt auf einem Tablett Kaffee und Kuchen. Dann geht sie wieder hinaus.
    Die Mutter fragt ihren Sohn: Soll ich mich umbringen?
    Der Sohn sagt: Aber nein, Mutter.
    Sagt: Ach, Mutter.
    Sagt: Wie kannst du das fragen.
    Der Sohn besucht seine Mutter am Sonntag um vier, und seine Mutter hat einen Unterarm, der ganz blau ist. Er fragt: Bist du gefallen?
    Nein, sagt die Mutter, ihre Haut färbe sich an manchen Stellen aus heiterem Himmel einfach so blau.
    Die Haushälterin sagt dem Sohn in der Küche, sie glaube nicht, dass das wahr sei, aber die Mutter erzähle ihr nichts.
    Der Sohn besucht seine Mutter am Sonntag um vier. Die Haushälterin sagt, als sie ihm den Mantel abnimmt: Die Mutter sei erst seit einer halben Stunde wieder wach, denn als sie morgens zum Dienst kam, habe die Mutter unausgekleidet auf dem Bettrand gesessen, offenbar seit dem Abend davor. Sie habe sie deshalb über Tag schlafen gelegt.
    Danke, sagt der Sohn, haben Sie vielen Dank für Ihre Mühe.
    Die Haushälterin ruft morgens um halb acht beim Sohn an, die Mutter sei nicht zu Hause. Ob sie vielleicht bei ihm sei? Der Sohn sagt: Nein. Er sagt: Ich komme.
    Der Sohn sagt eine Sitzung ab, sagt dem Großen, er müsse heute mit dem Bus ins Gymnasium, und zwar, weil es schon spät sei, so schnell wie möglich, bittet seine Frau, die Kleine zur Schule zu bringen, die Frau sagt: Bist du völlig verrückt, um halb neun sitz ich in der Maske, achso, sagt der Vater und ruft in der Schule an, die Kleine sei krank, die Kleine sagt, als er aufgelegt hat: Man soll nicht lügen, der Vater
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