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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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sein sollte, sich aber in der Unsichtbarkeit verkeilt hatte. Am Morgen nach der Geburt dann sah sie von ihrem Bett aus, wie alle einfach das taten, was zu tun war: Ihre Mutter, nun in eine Großmutter verwandelt, empfing eine Freundin, die gekommen war, um zu gratulieren, die in eine Urgroßmutter verwandelte Großmutter brachte die Kindbett-Zettel mit dem Psalm 21 und frischgebackenen Kuchen, und ihr Mann war ins Gasthaus gegangen, um auf das Wohl des Kindes zu trinken. Sie selbst hielt das Kind in den Armen, und das Kind trug die Wäsche, an der sie selbst, ihre Mutter und ihre Großmutter in den Monaten vor der Geburt gestickt hatten.
    Auch für das, was jetzt passiert war, gab es Regeln. Die Leute waren bei Sonnenaufgang erschienen, hatten das Kind aus der Wiege genommen, es in ein Tuch gewickelt und auf eine große Bahre gelegt. So leicht und klein war das Bündel gewesen, dass einer es festhalten musste, als sie die Treppe hinuntergingen, sonst wäre es fortgerollt. Saj mojchl un fal mir mejne trep nit arunter. Sei so gut. Sie hatte gewusst, dass das Kind noch am selben Tag unter der Erde sein musste.
    Jetzt sitzt sie auf dieser kleinen Fußbank aus Holz, die sie von ihrer Großmutter zur Hochzeit bekommen hat, sitzt da mit geschlossenen Augen, so wie sie andere in Zeiten der Trauer hat sitzen sehen. Manchmal war sie es, die Trauernden Essen gebracht hat, nun hat eine Freundin ihr selbst Schüsseln mit Essen vor die Füße gestellt. So wie sie gestern in der Nacht alles Wasser, das im Haus war, ausgeschüttet hat, weil es heißt, der Todesengel spüle darin sein Schwert, wie sie den Spiegel verhängt und das Fenster geöffnet hat, weil sie es andere so hat machen sehen, aber auch, weil die Seele des Kindes dann nicht wiederkehren, sondern für immer hinausfliegen würde, so wird sie jetzt sieben Tage da sitzen, weil sie andere so hat sitzen sehen, aber auch, weil sie anders gar nicht wüsste, wo bleiben, während sie diesen unmenschlichen Ort nicht mehr betreten will, der das Zimmer des Kindes in der letzten Nacht war. Wie Stege sind die Sitten der Menschen ins Unmenschliche hineingebaut, denkt sie, greifbare Gebilde, an denen ein Schiffbrüchiger sich wieder hinaufziehen könnte, wenn überhaupt. Schön wäre es, denkt sie, wenn der Zufall regieren würde, und nicht ein Gott.
    Dass die Decke zu dick war, könnte doch der Grund gewesen sein. Dass das Kind auf dem Rücken schlief. Dass es sich womöglich verschluckt hat. Dass es krank war, und keiner es wusste. Dass durch die Türen das Schreien des Kindes beinahe gar nicht zu hören war. Im Zimmer des Kindes hört sie jetzt die Schritte ihrer Mutter und weiß, ohne hinzusehen, was diese dort macht: Sie nimmt Decken und Kissen aus der Wiege und zieht die Bettwäsche ab, sie streift den Stoff, der die Wiege überdacht, vom Holzgestell ab und schiebt die Wiege beiseite. Mit dem Arm voller Wäsche kommt sie jetzt aus dem Zimmer, geht an ihrer auf der Fußbank sitzenden Tochter vorbei, die hält die Augen noch immer geschlossen, und trägt alles in die Waschküche hinunter. Dass sie zu jung war, um zu wissen, was tun. Dass ihre Mutter nie über all das mit ihr gesprochen hat. Dass auch ihr Mann nicht gewusst hatte, was tun. Dass sie, im Grunde genommen, immer ganz allein war mit dem Kind, mit diesem Wesen, das am Leben zu halten war. Dass niemand ihr vorher gesagt hat, dass das Leben nicht funktioniert wie eine Maschine. Die Mutter kehrt wieder zurück. Sie nimmt im Vorbeigehen das Laken, das den Spiegel im Flur verhängt, ab, faltet es zusammen und bringt es ins Zimmer des Kindes. Zuunterst legt sie es in den Koffer, den sie eigens zu diesem Zweck mitgebracht hat, dann nimmt sie die Sachen des Kindes aus dem Schubfach in der Kommode und legt sie zu dem Tuch in den Koffer. In den Monaten vor der Geburt haben sie, die Schwangere, ihre Mutter und ihre Großmutter an diesen Jacken, Kleidern und Mützen genäht, gestickt und gestrickt. Ihre Mutter schiebt jetzt die leere Schublade zu. Oben auf der Kommode liegt das Spielzeug mit den silbernen Glöckchen. Als sie es wegnimmt, klirren die Glöckchen. Gestern haben sie auch geklirrt, als die Tochter selbst noch eine Mutter war und mit ihrem Kind gespielt hat. Das Klirren hat in den vierundzwanzig Stunden, die seither vergangen sind, seinen Klang nicht verändert. Ihre Mutter legt das Spielzeug jetzt zuoberst in den Koffer, dann schließt sie den Koffer und hebt ihn auf, sie kommt aus dem Zimmer, trägt den Koffer durch den
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