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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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Frau Hoffmanns Schoß zurück und geht hinaus. Die Türen schließen hier so leise, dass Frau Hoffmann nicht hört, dass die Schwester schon fort ist.
    Warum und was?, fragt sie noch in die frühnachmittägliche Stille hinein, bekommt aber keine Antwort.
    Ihr Körper ist eine Stadt. Ihr Herz ein großer schattiger Platz, ihre Finger Passanten, ihre Haare das Licht von Laternen, ihre Knie zwei Häuserblöcke. Sie hat versucht, den Menschen Wege zu geben. Sie hat versucht, ihre Wangen und ihre Türme aufzumachen. Sie wusste nicht, dass die Straßen so wehtun. Sie wusste nicht, dass es so viele Straßen überhaupt bei ihr gibt. Sie will mit dem Körper aus dem Körper hinausgehen. Aber sie weiß nicht, wo der Schlüssel ist. Ich habe Angst, meinen Kopf zu verlieren. Angst, dass mir jemand meinen Kopfschlüssel wegnimmt.
    Um 15 Uhr gibt es Kaffee, dazu ein Schälchen Eis. Frau Buschwitz hat sich aus dem Zimmer hinausführen lassen, aber Frau Hoffmann bleibt da, trinkt den Kaffee, rührt so lange in dem Eis, bis es geschmolzen ist, dann schlürft sie es Löffel für Löffel. Dann klopft es. Es ist Herr Zabel aus Wohnbereich III , der sie manchmal besuchen kommt, wenn er wieder einmal seine Frau vermisst, die vor zwölf Jahren gestorben ist.
    Frau Hoffmann, wissen Sie vielleicht, wo meine Frau ist?
    Wie sieht sie denn aus?
    Sie hat braune, lockige Haare, bis auf die Schultern, und lacht immer gern.
    Nein, hier war sie nicht, aber wenn sie vorbeikommt, werde ich ihr sagen, dass Sie nach ihr suchen.
    Das ist nett von Ihnen, Frau Hoffmann.
    Herr Zabel hat viele Male vergessen, dass seine Frau gestorben ist, wieder und wieder ist deshalb die schreckliche Nachricht mit der ganzen Schwere über Herrn Zabel hereingebrochen, wenn jemand nicht achtgegeben und ihm zur Antwort gegeben hat:
    Ihre Frau? Aber die ist doch längst tot.
    Viele Male musste er deswegen zum ersten Mal um seine Frau trauern, nur Frau Hoffmann, und das vergisst er ihr nie, verspricht immer, ihn zu verständigen, falls seine Frau vorbeikäme. Herr Zabel setzt sich auch gern für ein Weilchen zu Frau Hoffmann. Sie ist höflich, und mit ihr kann er über alles sprechen, was ihn bedrückt. Er sagt dann zum Beispiel:
    Ich beginne langsam, kranksam, zum Tier zu werden.
    Und Frau Hoffmann sagt:
    Ich habe Angst, allmählich nach beiden Seiten durchzuschimmern.
    Und Herr Zabel sagt:
    Die Kranken beginnen, ihre Ehre aufzugeben.
    Und Frau Hoffmann sagt:
    Es ist so schwer, das alles zu ertragen.
    Und Herr Zabel:
    Wollen wir nicht versuchen, unsere Krankheiten aufzubeißen?
    Frau Hoffmann fällt dazu ein Vers aus ihrer Kindheit ein:
    Lieber Gott, lieber Gott, den wir Vater heißen,
    wenn du uns schon Zähne gabst,
    gib auch was zu beißen.
    Und Herr Zabel dichtet weiter:
    Lieber Gott, lieber Gott, den wir Vater heißen,
    wenn wir schon zusammengehören,
    gib auch was zu greifen.
    Seltsam, nicht wahr, sagt Frau Hoffmann, wie sich e i n Wort seinen Weg durch das Dickicht der Worte bahnt.
    Ja, das ist wirklich seltsam, sagt Herr Zabel und schweigt dann eine Weile.
    Irgendwann steht er auf, macht eine kleine Verbeugung gegen Frau Hoffmann und geht wieder zurück auf sein Zimmer im Wohnbereich III , vielleicht ist seine Frau ja schon zu ihm unterwegs.
    Um halb sechs werden die, die selbst gehen oder im Rollstuhl hinausgeschoben werden können, zu Tisch geführt, um sechs gibt es Abendbrot, Nachtmahl sagt Frau Hoffmann noch immer dazu, obwohl es schon ein Leben her ist, dass sie in Wien gewohnt hat. Zwischen Frau Schröder und Frau Millner ist der Platz für ihren Rollstuhl.
    Da macht man so viel Gewese ums Essen, sagt Frau Hoffmann zu Schwester Katrin, die ihr das belegte Brot in kleine Quadrate schneidet.
    Da geht man schön essen , sagt sie, und lacht kurz auf.
    Ist doch auch schön, sagt Schwester Katrin, candle light dinner , nicht wahr, Frau Hoffmann?
    Und eigentlich isst man nur, um nicht zu sterben.
    Na na, Frau Hoffmann, lassen Sie es sich mal schmecken.
    Ohne Essen stirbt man, so einfach ist das, sagt Frau Hoffmann.
    Aber Schwester Katrin hört nicht mehr zu, sie ist inzwischen an einem der anderen Tische damit beschäftigt, einer Dame den Latz umzuhängen.
    Nur weil man essen m u s s, macht man soviel Gewese darum, sagt Frau Hoffmann.
    Aber weder Frau Schröder kann hören, was ihre Tischnachbarin sagt, noch Frau Millner.
    Nur, damit es einem nicht langweilig wird.
    Und dann kommt der Abend.
    Frau Buschwitz hat Kopfhörer aufgesetzt und begonnen, Radio zu hören.
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