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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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anderthalb Jahren, als er kam, um sie ins Heim zu bringen, hatte sie ihn bereits, in Hut und Mantel auf dem Stuhl in der Vorhalle sitzend, erwartet und sich als Major der k.u.k. Armee vorgestellt, der zum Abmarsch bereit sei. Neben ihr stand ein kleiner, dunkelblauer Koffer, auf dem Schoß hielt sie das Kästchen mit den goldenen Knöpfen. Das Kästchen kannte er gut, mit diesen Knöpfen hatte er in Ufa bei seiner Njanja zwei oder manchmal auch drei Kilo Luft eingekauft, hatte die Knöpfe, wenn ihm beim Warten auf die Mutter langweilig wurde, poliert und den doppelköpfigen Adler darauf oft betrachtet. Hier in Wien breitete dieser Adler nicht nur an der Hofburg seine Flügel aus, überall in der Stadt blickte er gleichzeitig nach rechts und nach links: auf schmiedeeisernen Gittern, an Brunnen, über Hauseingängen und sogar auf dem Ladenschild der Trafik, wo der Mann sich vorhin Zigaretten gekauft hat, dabei war der Kaiser nun schon seit einem Dreivierteljahrhundert tot. Überall breitete hier immer noch dieser Adler die Flügel über seine zwei Köpfe, wie um sie zusammenzuhalten.
    Verging in Wien die Zeit tatsächlich so langsam?
    Oder gar nicht?
    Da war im Osten Deutschlands ein Staat gegründet worden, war vierzig Jahre lang Staat gewesen, war vierzig Jahre lang Alltag gewesen, Neubauten, Schulkinder, der Sozialismus siegt, Sie werden platziert, Held der Arbeit, 10 Pfennige Fahrgeld, ich schreib eine Eingabe, hol mal schnell aus dem Konsum ein Eis, Stellplatz am 1. Mai: Karl-Marx-Allee Ecke Andreasstraße, Kirschenpflücken in Werder, Ernst Busch singt vom Bauernkrieg, der Fahrstuhl steckt wiedermal fest, sozialistische Bruderländer, liebe Genossinnen und Genossen, und irgendwann, nach einem ganzen Leben in diesem Leben, waren Alltag und Staat zugrundegegangen, verschwunden, in den Boden gestampft, von der Landkarte gewischt, zusammengekracht, vom Volk hinweggefegt – in Wien aber hat, wie es ihm scheint, indessen einfach nur alles, was immer schon da war, überdauert. Dass am Ende des Krieges auch auf Wien Bomben gefallen sein sollen, wie seine Mutter immer gesagt hat, kann er sich beim besten Willen nicht vorstellen, so groß und unzerstört sind hier alle Häuser, die er bisher gesehen hat.
    Obgleich er seit der Öffnung der Grenze schon oft in Frankfurt am Main gewesen ist, auch in London, in Triest und einmal sogar mit Frau und Kindern in New York, um die Freiheitsstatue zu sehen, nennt der Mann die Stadt Wien bei sich immer noch westliches Ausland und fallen ihm beim Kaffeegeruch im Café Museum, ob er will oder nicht, die Pakete ein, die seine erste Freundin von ihrer bundesdeutschen Verwandtschaft bekam, heißt die neue Zeit bei ihm immer noch die Zeit der Gewinner , und kann er nicht anders, als sich wieder einmal darüber zu wundern, dass die sogenannte Moderne ihre Überlegenheit einzig und allein daraus ableitet, dass es sie schon seit einhundertundfünfzig Jahren gibt. Ob er will oder nicht, sieht er den Leuten hier an, dass sie daran gewöhnt sind, in schnellen Autos zu fahren, dass sie wissen, was eine Steuererklärung ist, und keinen Grund haben zu zögern, bevor sie beim Kellner ein Glas Prosecco zum Frühstück bestellen. Schon daran, wie sie bei ihrem Eintritt die Tür hinter sich zufallen lassen, kann er erkennen, dass sie sicher sind, überall in der Welt in der richtigen Welt zu sein. Jetzt sitzt auch er in dieser richtigen Welt, jetzt hat auch er das richtige Geld im Portemonnaie, und sitzt dennoch vor einem Glas Wasser, um Westgeld zu sparen. Ich muss draußen bleiben. Die Schilder, auf denen Hunde abgebildet sind, die nicht in den Fleischerladen, nicht ins Restaurant, nicht ins Schwimmbad dürfen, gab es im Osten genauso wie im Westen Deutschlands und wie wahrscheinlich überall auf der Welt. Inzwischen ist die Grenze, die ihn früher vom Westen trennte, zwar längst gefallen, dafür ist sie bei ihm, wie es scheint, nach innen gerutscht, und trennt jetzt den, der er war, von dem, der er sein soll und dürfte. Ich weiß nicht, woran man einen Menschen erkennt, hat seine Mutter bei seinem letzten Besuch zu ihm gesagt. Er will keinen Prosecco zum Frühstück, ob er will oder nicht. Und es ist ihm auch völlig egal, ob die anderen an seinem Blick, seinen Haaren, seinen Wangen erkennen können, dass er aus dem zu Recht, endlich, gottseidank, Zeit wurde es ja, untergegangenen Land kommt, wo es, so ein Schwachsinn, volkseigene Betriebe gegeben hat, am 1. Mai rote Nelken fürs Knopfloch,
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