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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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Empfang zu nehmen. Jetzt sitzt er mit ihr auf einer Bank an einem Waldrand, die Blätter rauschen in ihrem Rücken, und vor ihnen liegt ein weites, sanft abfallendes Feld, auf dem das Korn erst kniehoch und noch blaugrün ist. Wenn der Wind darüber hinstreicht, sieht es beinahe so aus wie Wasser.
    Ich wollte dir nur sagen, sagt seine Mutter, es ist mein gutes, gutes schönes Lebewohl.
    Ach Mutter, sagt er und streicht ihr über den Rücken.
    Ich habe, sagt sie, meine Angst vor dem Werdenden nicht gescheitert.
    Ein paar Freunde wollten zum Geburtstag der Mutter kommen, aber er hat ihnen abgesagt. Weil er sich für seine Mutter schämte? Oder weil er fand, dass seine Mutter ihren Freunden so in Erinnerung bleiben sollte, wie sie früher war? Hatte er ihr einen Gefallen getan, den Freunden oder sich selbst?
    Das senkt sich auf dich herab von oben nach unten – du weißt nicht, von welcher Seite. Ich weiß es nicht, und du weißt es wahrscheinlich auch nicht.
    Nein, ich weiß es auch nicht.
    Noch nie hat er so wenig gewusst wie jetzt.
    Das Einzige, was er weiß, ist, dass sein Nichtwissen von ganz anderer Art ist als ihres. Das Nichtwissen seiner Mutter ist so tief wie ein Fluss, an dessen jenseitigem Ufer eine ganz andere Art von Welt liegen muss als die, in der er wohnt.
    Ich weiß nicht, woran man einen Menschen erkennt.
    Ich weiß nicht, von wem kann ich alles verlangen?
    Kommen sie zu uns oder kommen sie von uns?
    Ich weiß nicht, was kommt.
    Ich weiß nichts.
    Ich weiß nicht, wann groß und wann klein ist.
    Ich weiß nicht, was ich machen soll.
    Ich weiß nicht, wo ich zu Haus war.
    Ich weiß so vieles nicht.
    Ich weiß nicht, was alles passiert.
    Langsam beginnt es, und langsam hört es wieder auf. Ich weiß nicht, was ich lieber habe.
    Ich weiß nicht, ob mein Herz wieder schlagen wird.
    Ich weiß nicht den großen Unterschied.
    Ich weiß ihn nicht.
    Ich weiß ihn nicht und verstehe ihn auch nicht.
    Ich weiß, was ich weiß – aber es ist nicht mit dem Namen vermischt.
    Ich glaube, das ist alles gesponnen.
    Ich glaube, das ist es.
    In diesem Land, in das seine Mutter übersetzt, indem sie alles, was sie jemals verstanden hat, nicht mehr verstehen kann, wird sie keine Worte mehr brauchen, so viel versteht er. Einen kurzen, hellen und scharfen Moment lang versteht er, wie es wäre, wenn er mit ihr dort ankommen könnte: Das Kornfeld wäre von Grund auf da, ebenso wie das Rauschen der Blätter in seinem Rücken, die Stille wäre von der Abwesenheit dieses Knallens, das nur noch in seiner Erinnerung wohnt, ausgefüllt bis zum Rand, und die Erinnerung, die diese Stille ausfüllt, wäre ebenso wirklich wie die Schritte aller Menschen, die in diesem Augenblick gerade über die Erde gehen, wie ihr Hinfallen, Springen, Kriechen und Schlafen in ebendem Augenblick, wäre ebenso wirklich wie alles, was währenddessen stumm in der Erde liegt oder fließt: die Quellen, die Wurzeln und die Toten, der Ruf des Kuckucks da drüben wäre genauso wirklich wie der Stein, der unter seiner Schuhsohle knirscht, wie die Kühle des Abends und das Licht, das durch die Blätter hindurch ihm vor die Füße fällt, wie seine Hand, mit der er seiner Mutter über den Rücken streicht und unter der dünn gewordenen, alten Haut ihre Knochen spürt, die bald blankliegen werden – kurz, scharf und hell weiß er einen Moment lang, wie es sich anfühlen würde, wenn das Hörbare und das Unhörbare, das Ferne und das Nahe, das Innere und das Äußere, das Tote und das Lebendige gleichzeitig da wären, keines wäre über dem anderen, und dieser Augenblick, in dem alles gleichzeitig da wäre, würde ewig dauern. Aber weil er ein Mensch ist, ein Mann im mittleren Alter, Frau, zwei Kinder, Beruf, weil er noch einige Zeit vor sich hat, in der er, wenn er etwas nicht weiß, in einem Lexikon nachschlagen kann oder einen seiner Kollegen fragen, ist dieses sprachlose Wissen ebenso plötzlich, wie es ihn befallen hat, auch wieder vorbei. Um diese andere Welt mit den Augen seiner Mutter zu sehen, wird ihm noch eine gute irdische Zeitlang das Wichtigste fehlen: das Fortgehen.
    Ich habe geträumt, dass ich geträumt habe.
    Und auf einmal war es kein Traum mehr.
    7
    F rau Buschwitz schläft schon, als die Mutter abends von ihrem Sohn ins Zimmer zurückgebracht wird. Auf dem Tisch am Bett der Mutter steht eine ausgewaschene, gläserne Limonadenflasche, die mit Knete beklebt ist. Aus der Knete ist eine rote »90« geformt, rings um die »90« ist ein gelber
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