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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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zur vollen Stunde schlägt, so einen hellen, freundlichen Klang, da geht einem richtig das Herz auf.
    5
    D er Verkäufer schaut nur kurz von seinem Buch auf, 280 Schillinge, sagt er und liest weiter. Und so kauft der Mann für seine Mutter als Mitbringsel aus Wien das Miniaturbild In Treue fest , und weil er zwar einige Zeit, jedoch keine ganze Stunde, in dem Laden verbracht hat, hört er die kleine Standuhr, die bei seinem Eintritt die falsche Zeit angegeben hat, kein zweites Mal schlagen. Auf der Rückfahrt nach Berlin denkt er noch einmal kurz an den Goethe, für den im Nachtzug noch ein ganzer Liegeplatz frei gewesen wäre, aber Band 9 zumindest war ja am Rücken beschädigt, und außerdem, wer weiß, ob ihm in seinem Leben überhaupt noch genug Zeit zum Lesen einer Gesamtausgabe bleibt, auch er ist ja nicht mehr der Jüngste.
    6
    A m Samstag hat Frau Hoffmann ihren neunzigsten Geburtstag. Auf ihrem Platz zwischen Frau Millner und Frau Schröder stehen ein Blumenstrauß von der Heimleitung und ein Fläschchen Sekt. Als sie sich setzt, singen die, die noch singen können, auf ein Zeichen von Schwester Renate: Wir freuen uns, dass du geboren bist, und hast Gebu-u-rtstag heut. Frau Hoffmann nimmt zur Kenntnis, dass sie Geburtstag hat, und dankt in die Runde. Frau Millner nickt ihr zu, oder nickt vielleicht auch, weil ihr der Toast mit Honig so gut schmeckt, während Frau Schröder sich nur darauf konzentriert, ihren Kaffee nicht zu verschütten. Auf dem Rückweg zum Zimmer sagt Schwester Renate: Heute holt Sie ja Ihr Sohn ab und macht mit Ihnen einen Ausflug, nicht wahr, Frau Hoffmann? Ach, das wusste ich nicht, sagt Frau Hoffmann. Dann will sie doch, bevor ihr Sohn kommt, sich noch die Haare kämmen und den Marmeladenfleck von ihrer Jacke abwischen. Aber selbst auch nur den Arm zu heben, um an ihren eigenen Kopf zu reichen, fällt ihr schwer, mein eigener Körper ist schon zu groß für mich, sagt sie zu Schwester Renate, ach was, sagt die Schwester, ich mach Sie hübsch, sie nimmt ihr den Kamm aus der Hand, fährt ihr ein paarmal durch die wenigen grauen Haare und sagt, um elf komm ich wieder und bring Sie nach unten, in Ordnung? Jaja, sagt Frau Hoffmann, wird schon in Ordnung sein.
    Und dann sitzt sie mit ihrem Sohn in irgendeiner Sonne, unter irgendeinem blauen Himmel, mitten in der guten, frischen Luft, mitten in der Welt.
    Es ist so schön, dass du da bist, sagt sie.
    Ich freue mich auch, dich zu sehen.
    Es ist für mich eine solche Hilfe, aber davon weißt du nichts, und es ist auch gut so, dass du es nicht weißt, es ist nicht gut, mehr zu wissen.
    Der Sohn schweigt.
    Erzähl mir, war es schön unterwegs?
    Der Sohn erzählt von Wien, vom Naschmarkt und vom Café Museum.
    Ich habe solche Sehnsucht.
    Der Sohn sagt, ich hab dir etwas mitgebracht.
    Hübsch, sagt sie, und betrachtet Kaiser Wilhelm II . und Kaiser Franz Joseph.
    Es ist aus einem Geschäft in der Mondscheingasse, kennst du die vielleicht?
    Weißt du, ich möchte leben, und ich kann nicht. Wenn ich sterbe, wird nur ein Platz leer, und ein neuer Platz besetzt sein.
    Ich habe dich lieb, sagt der Sohn und nimmt die Hand seiner Mutter.
    Wirklich? Das ist schön, sagt sie.
    Ihre Hand liegt kalt und knochig in seiner großen und warmen Hand.
    Weißt du, sagt sie, ich habe Angst, dass alles verlorengeht – dass die Spur verlorengeht.
    Welche Spur, fragt der Sohn
    Ich weiß nicht mehr, woher und wohin.
    Der Sohn schweigt.
    Über den weiten Himmel ziehen ein paar Wolken. Zwei Flugzeuge, die ganz weit oben geflogen sind, haben Kondensstreifen hinterlassen, die sich jetzt langsam wieder in Himmel verwandeln. Dem Sohn fällt ein, dass es bis vor wenigen Jahren mitten in solche Stille hinein manchmal einen ohrenbetäubenden Knall gab, wenn Überschallflugzeuge bei einem militärischen Manöver die Schallgrenze durchbrachen. Jetzt sind die Russen, genannt die Freunde , längst abgezogen, und die Übungsplätze der Nationalen Volksarmee anderswohin verlegt, und wahrscheinlich ist es auch von Gesetzes wegen nicht mehr erlaubt, zu Übungszwecken die Schallgrenze zu durchbrechen. Jetzt ist es still, und der Himmel ist beinahe so leer wie zur Zeit der Jäger und Sammler.
    Ich denke, wenn wir versuchen zu spielen, dass das ein merkwürdiges Spiel sein wird, sagt seine Mutter.
    Vier Wochen vor dem Fall der Mauer hatte seine Mutter für ihr Lebenswerk den Nationalpreis Erster Klasse bekommen. An seinem Arm war sie nach vorn gegangen, um die Urkunde und das Kästchen in
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