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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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Schlüssel, Pendel, Koffer und Kohlesack, trägt alles in ein Zimmer, das nur unter anderem ihres ist, in dem sitzen fremde Leute auf Betten, spielen fremde Kinder unter dem Tisch, streiten Fremde miteinander, dort zieht sie, als ginge das alles sie wenig an, das Paket aus dem Sack, wickelt es aus, stellt die Uhr auf den Tisch, hängt das Pendel ein, und schon beginnt das Uhrwerk wieder zu ticken, in der gespannten Feder steckt noch das Leben ihrer Mutter, sie scheucht ein paar Kinder weg, setzt sich vor die Uhr und schaut zu, wie die Zeit, die jetzt für immer zu spät ist, vergeht. Die Zeit ist wie ein Dornenstrauch, der sich in Wolle verfangen hat, den man mit aller Gewalt herausreißt und hinter sich wirft. Die Minuten, auf die es jetzt nicht mehr ankommt, vergehen, durch den Minutenzeiger säuberlich eine von der andern getrennt.
    Noch zweimal werden der Koffer und der Kohlesack mit der in einen Polsterbezug gewickelten Uhr von der Frau durch die Wiener Stadt transportiert, denn auf eine weitere amtliche Anweisung hin muss sie von der Dampfschiffstraße in die Obere Donaustraße umziehen, und drei Monate später von der Oberen Donaustraße in die Hammer-Purgstall-Gasse 3/12. Obgleich der Frau das Umziehen inzwischen schon schwerfällt, schleppt sie sich beide Male auch mit dem gesamten Goethe ab und mit der Uhr, den zwei Habseligkeiten ihrer bereits deportierten Mutter. Und wickelt die Uhr, wenn sie angekommen ist, da oder dort wieder aus, zieht sie auf und legt dann den Schlüssel daneben, genau so, wie es ihre Mutter immer getan hat. Vielleicht hat es mit diesen Hinterlassenschaften ja eine geheime Bewandtnis, so wie im Märchen, wo in größter Not aus einem Kamm, den man hinter sich wirft, ein Wald wächst.
    Bis zum 13. 8. 1942, an dem sie am Aspangbahnhof in Wien den Zug besteigt, der nach Minsk fährt, wächst aber kein Wald.
    Das Aufbrechen, Inventarisieren und Leerräumen der jüdischen Sammelwohnung in der Hammer-Purgstall-Gasse 3/12 durch die Gestapo-Verwertungsstelle für jüdisches Umzugsgut dauert zweieinhalb Tage. Die kleine Standuhr ist inzwischen zum Stillstand gekommen. Der Schlüssel zum Aufziehen liegt, wie immer, daneben. Chaim Safir steckt den Schlüssel durch die kleine ovale Öffnung, durch die man das Pendel sieht, in das Uhrengehäuse hinein, und stellt dann die Uhr in einen Wäschekorb, in dem schon ein Stapel Teller, eine Blumenvase aus Porzellan, mehrere Gläser und eine Kristallkaraffe auf ihren Abtransport warten. Damit nichts zerbricht, legt Chaim Safir ein paar Kleidungsstücke dazwischen, dann nimmt er den Korb, trägt ihn nach unten und sagt zu Herrn Gschwandtner: Jetzt wären da nur noch die Möbel. Herr Gschwandtner folgt ihm zur Kontrolle, sieht sich im Zimmer um und macht die Schranktüren auf, schaut unter die Betten, stößt eine kleine Fußbank beiseite und zieht dann mit sicherem Griff den Koffer hervor, da sind wohl noch Juwelen, du Kerl, Chaim Safir sagt, das tut mir leid, den Koffer hab ich übersehen. Herr Gschwandtner sagt, ist das ein Trum, der Deckel will erst nicht aufspringen, dann schließlich doch, hast a Maß ghabt, sagt Herr Gschwandtner zu Chaim Safir, alles nur Bücher, liest, was auf dem Rücken der Bücher steht, sagt: alles nur Goethe, klappt den Koffer wieder zu, Sein oder Nichtsein , sagt er im Aufstehen und grinst, Chaim Safir nickt, ohne Herrn Gschwandtner dabei anzuschauen, Herr Gschwandtner tippt mit der Fußspitze an den Koffer, sagt: Den noch nach unten.
    Das Wochenende verbringen der Koffer und die Uhr zwischen all den anderen Dingen im Lager. Montagfrüh kommt der Schätzmeister und sortiert die Neueingänge nach Wert, den Korb mit Uhr, Karaffe und Geschirr schickt er zum Freihandverkauf in die Krummbaumgasse, Parterre, und weil der Koffer so schäbig aussieht, macht er ihn gar nicht erst auf, sondern sagt gleich: Den auch. In der Krummbaumgasse, Parterre, werden solche schäbigen, bereits gepackten, aber übriggebliebenen Koffer für 2 RM das Stück verkauft, Katze im Sack, auf gut Glück, blindlings, in Bausch und Bogen, Überraschung muss sein, samt Inhalt, aber aufmachen darf man vorher nicht. In der Zeitung erscheint eine Anzeige für den Freihandverkauf der neu eingelangten Möbel und Accessoires, ein frisch kriegsverheiratetes Mädchen bewirbt sich um einen Einladungsschein, ihren Gehaltszettel legt sie bei, arm genug ist sie und hat den Mann an der Ostfront, sie muss selber schauen, wie sie durchkommt. Zwei Freunde oder Verwandte darf
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