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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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gefälschte Wahlen, Greise mit Baskenmütze aus dem Spanischen Bürgerkrieg und als Schulstoff Dialektik. Ein Mensch, wie stolz das klingt. Morgens um sechs, als er aus dem Nachtzug stieg, hat er welche gesehen, die auf Pappen im Bahnhof schliefen. In welcher Welt ist er die letzten vierzig Jahre gewesen? Wo ist diese Welt geblieben? Hat er nun für den Rest seines Lebens das Herz eines Hundes?
    Später geht er mit sich selbst aus dem Café hinaus, um vor dem Termin, den er erst am Nachmittag hat, ein wenig zu schlendern, Pferdefleisch wird auf dem Naschmarkt verkauft, Kräuter, Äpfel und Blumen, er dreht eine Runde und spaziert dann auf die Rechte Wienzeile hinüber, für das Pornokino, das es da gibt, ist es zu früh am Tag, nichts wollen will er, er spaziert blindlings in eine der Seitengassen hinein, biegt planlos rechts ab, und weiter, Straßenbahnschienen, aus den Toreinfahrten riecht es nach Kalk und nach Staub, als wäre schon Sommer, an schmutzigen Schaufenstern geht er entlang, immer weiter die Straße hinunter. Er ist froh, wenn er nichts besichtigen muss, was ein Fremder in Wien besichtigen würde, er geht gern einfach nur so durch einen Alltag. Dort, wo vor sehr langer Zeit einmal ein Engel über einen Hauseingang gewacht hat, steht jetzt kein niedriges Haus mehr, sondern ein fünfstöckiges, modernes Hotel. Das Haus, in dem seine Urgroßmutter einmal gewohnt hat, fiel kurz vor Kriegsende März fünfundvierzig tatsächlich noch einer der wenigen Bomben zum Opfer, aber da war seine Urgroßmutter schon über vier Jahre tot und ihre Wohnung lange ausgeräumt und an andere Leute vergeben. Aber er weiß weder, wer seine Urgroßmutter war, noch, wo sie gewohnt hat, er weicht aus, als die Drehtür des Hotels eine Gruppe Reisender auf den Gehsteig entlässt. Wien ist, was den Mann angeht, von Geschichten ganz und gar reingewaschen, und es hat nicht einmal ein Menschenleben gedauert, bis ihn, den Nachfahren einer Wienerin, diese Stadt nichts mehr angeht. Nicht einmal ein Menschenleben, bis Herkunft und Heimat zweierlei sind. Frei ist er, doppelt frei, in seinem Innern trägt er als ein großes schwarzes Land all die Geschichten, die seine Mutter ihm nicht erzählt oder verschwiegen hat, mit sich herum, trägt vielleicht sogar diejenigen Geschichten, die nicht einmal seine Mutter wusste oder in Erfahrung gebracht hat, mit sich herum, kann sie nicht loswerden, aber sie auch nicht verlieren, weil er sie gar nicht kennt, weil all das in ihm begraben ist, weil er mit Innenräumen, die ihm nicht gehören, schon aus seiner Mutter geschlüpft ist und sein eigenes Inneres nicht anschauen kann. Sein Vater war vor beinahe vierzig Jahren einmal für drei Wochen in Berlin, aber er hat davon nicht erfahren, wie auch? Sein Vater hat später eine Ewigkeit in Workuta gelebt und ist vor zwölf Jahren auch in Workuta gestorben, aber der Sohn weiß weder das eine noch das andre. Der Sohn kann, wo er will in der Welt, zum Beispiel in Berlin, zu Haus sein. Wenn er wissen würde, welche Fragen er stellen müsste, und dass überhaupt und wem, dann hätte ein Beamter der Israelitischen Kultusgemeinde von Wien sicher diese oder jene Liste hervorholen und ihm sagen können, dass seine Urgroßmutter mit dem ersten Transport Februar einundvierzig nach Opole im Distrikt Lublin gebracht wurde, seine Großmutter nach sechs Umzügen innerhalb Wiens im Juli zweiundvierzig über Minsk nach Maly Trostinez, und die Tante, die sich noch lange bei einer Freundin versteckt gehalten hatte, vierundvierzig nach Auschwitz. So aber ist für den Mann die Stadt Wien so staubig wie jede andere Großstadt. Kettenbrückengasse, Mariahilfer Straße, Siebensterngasse, Mondscheingasse. Dort, auf der drüberen Seite, wie seine Mutter es nennen würde, ist ein Altwarenhandel, wer weiß, vielleicht findet er hier etwas, das er ihr mitbringen kann.
    Die kleine Standuhr, die in einem Regal gleich neben dem Eingang steht, schlägt mit blechernen Schlägen zehn Uhr, dabei, das weiß er, muss es mindestens schon halb zwölf sein. Er sieht ringsumher Tische und Schränke, Stühle mit Flechtwerk, Schemel und Hocker, Vitrinen mit Knäueln aus Schmuck und altem Silberbesteck, von der Decke baumeln Lampen herab, an den Wänden hängen Ölgemälde und Spiegel, Setzkästen, Barometer, Kruzifixe, in den Regalen stehen Kerzenleuchter, Teller, Bücher und Gläser, und unter den Tischen hölzerne Eimer und Körbe mit Wäsche. Alles ist ineinander verkeilt, eins macht dem anderen
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