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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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sie mitbringen, wenn sie den Schein einmal hat, und sie bekommt ihn, bringt also Mutter und Freundin, ach da schau her, ist das aber herzig, und wirklich nicht teuer, eine Vase, eine Karaffe aus Kristall, eine Bettwäsche-Garnitur oder ein Teller. Schau mal die Uhr, durch das Loch sieht man das Pendel, die geht vielleicht nicht, ach wird schon, was klappert denn da, schau, der Schlüssel, ich fisch ihn heraus, Vorsicht, ich zieh sie mal auf, Meingott, der Teller hier ist ja riesig, kein Wunder, die schlachten doch Kinder, ach geh, der ist wirklich schön, und ich nehm mir hier diesen Koffer, der ist extra billig, ja mach nur, wer weiß, was da drin ist, Jessas ist der schwer, vielleicht Steine, vielleicht ein Schatz, darf ich da vielleicht doch vorher einmal hineinschauen? Gnädigste, schauen wär teurer, gut, wenn Sie meinen, viel kann ja nicht schiefgehen, ich nehm ihn jetzt einfach, erlebe vielleicht mein blaues Wunder, aber wir machen ihn erst zu Haus auf, warum denn, ich will wissen, was drin ist, na, nicht immer so neugierig sein. Die Uhr schlägt drei, dabei ist es erst kurz nach halb zehn. Die hört sich aber schön an, mir gingat das Schlagen auf die Nerven, mir nicht, ich stell sie auf die richtige Zeit, ich find sie hübsch, ich auch, was willst du denn mit einer Uhr, eine Uhr braucht man immer. Und ich nehm den Teller. Den jüdischen Teller? Warum denn nicht, der wird gleich am Samstag getauft: Schweinshaxn mach ich.
    Die Kriegsverheiratete hat zwei Jahre später, als der Krieg endlich aus ist, zwar eine Tochter, aber der Mann ist in Russland gefallen. Die Standuhr schlägt mit blechernem Klang all die Stunden, die so ein Leben in der Friedenszeit hat, schlägt eins bis zwölf, eins bis zwölf, und am nächsten Tag wieder zweimal von eins bis zwölf, schlägt in aller Frühe, wenn die Hausreinigung mit dem Besen von außen gegen die Eingangstür stößt, schlägt vormittags in einer leeren Wohnung, während das Mädchen in der Schule ist und die Frau in einem Büro, schlägt nachmittags zu Kaffee und Kuchen, und abends mitten ins Schlaflied hinein, Der Mond ist aufgegangen , schlägt auch spät in der Nacht, wenn die Kriegerwitwe ihr Haar löst und keinen Mann hat, der den Gürtel über die Stuhllehne hängt. Schlägt eins bis zwölf ein friedliches, arisches Leben lang.
    Als die Kriegerwitwe selbst schon an die fünfzig Jahre alt ist, stirbt ihre alte Mutter, sie löst zusammen mit der inzwischen erwachsenen Tochter den Haushalt auf und findet dabei im Keller die Goethe-Ausgabe, das blaue Wunder von damals, die Katze im Sack, die riecht nach Keller, ist aber nicht verschimmelt. Der Antiquitätenhändler von nebenan, der immer in seinem Laden herumsitzt und liest, zahlt ihr anständig Geld für des Klumpert . In dem schäbigen Koffer aber, der seinerzeit, sogar mit Inhalt, nur 2 RM gekostet hat, liegen jetzt verschiedenfärbige Flicken, die kann sie selber noch brauchen.
    Noch über zwanzig weitere Jahre lang schlägt die Uhr mit blechernem Klang in diesem, einem beliebigen Wiener Haushalt täglich von eins bis zwölf, und noch einmal von eins bis zwölf, bis Tag für Tag um ist, die Tochter hat jetzt ihr eigenes Leben, wenn die Enkel kommen, schauen sie durch das ovale Loch das Pendel der Uhr an, wie es, ohne jemals müde zu werden, hin- und hergeht, aber anfassen dürfen sie nicht, das Vertiko müsste einmal abgestaubt werden, die Frau braucht zum Lesen schon eine Brille, das Gehen fällt ihr allmählich schwer, die Tochter besucht sie leider zu selten, aber was soll man machen, die Frau schläft vor dem Fernseher jetzt manchmal ein und wacht erst auf, wenn mitten in der Nacht die Uhr zwölfmal schlägt, die Enkel sind ziemlich verzogen, die Frau isst zum Frühstück immer ein Kipferl, und lebt und lebt und zieht immer die Uhr auf und legt immer den Schlüssel daneben. Und schließlich, als ihr letztes Stündlein geschlagen hat, stirbt die Frau einen friedlichen, arischen Tod.
    Ihrer Tochter gefällt der alte Kram überhaupt nicht, eine Wohnung muss hell und leer sein, Hausrat hat sie selbst mehr als genug, mein Gott, was die Mutter nicht alles aufgehoben hat, der schäbige Koffer mit den Flicken landet sofort im Müll, und was den Rest angeht, da schau her, der Antiquitätenhändler von damals sitzt ja noch immer in seinem Laden und liest! Braucht er vielleicht so eine Standuhr, wirklich ein ganz besonderes Stück aus Großmutters Zeiten, ja, der Schlüssel ist auch mit dabei, und die Uhr hat, wenn sie
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