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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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Schatten, so dass der Raum auch an diesem hellen Maitag in seiner eigenen Dämmerung liegt. Einen Verkäufer kann der Mann zunächst nicht sehen, es begrüßt ihn auch niemand, erst als seine Augen sich an das wenige Licht gewöhnt haben, sieht er am hinteren Ende des Ladens einen Herrn in einem Fauteuil sitzen und lesen.
    Was nun würde seiner Mutter gefallen? Seiner Mutter, die ins Altersheim nichts mitnehmen wollte als den gelben Wandteppich mit der usbekischen Sonne, den kleinen, dunkelblauen Koffer, dessen Inhalt er nicht kennt, und das Kästchen mit den goldenen Knöpfen. Gern hätte er für sich selbst die Goethe-Ausgabe letzter Hand, die hier erstaunlicherweise vollständig im Regal steht und bestimmt nicht so teuer ist wie in einem richtigen Antiquariat, den 9. Band, der am Rücken leicht abgeschabt ist, zieht er auf gut Glück heraus, blättert ein wenig darin herum, Lebt wohl , und stellt den Band dann wieder zurück, denn wie sollte er eine ganze Goethe-Ausgabe im Zug nach Berlin transportieren. Eine Brosche mit Amethysten könnte hübsch sein, oder ein silberner Löffel mit dem Wappen von Wien, aber er mag den Verkäufer nicht bitten, die Vitrine zu öffnen. Schließlich sieht er ein Miniaturbild an eine Meißner Suppenterrine angelehnt stehen, darauf sind der preußische Kaiser Wilhelm II . und Kaiser Franz Joseph als Verbündete aufgemalt, In Treue fest , steht auf dem Bild, und weil es seine Wiener Mutter schließlich nach Preußen verschlagen hat, denkt er, das könnte passen, politisch ist es auf jeden Fall lange verjährt, er nimmt das Bild aus dem Regal, tritt näher und fragt den Herrn: Entschuldigen Sie, wieviel?
    4
    A n die achtzig Jahre alt ist die Besitzerin der Goethe-Ausgabe und der kleinen Standuhr, als sie alles zurücklassen muss und im Februar einundvierzig, auf den Arm ihres Vetters gestützt, den Weg ins Jüdische Altersheim in der Malzgasse antritt, wo der Einfachheit halber die erste Sammelstelle für Transporte in den Osten eingerichtet worden ist. Die Uhr schlägt elf, die Uhr schlägt zwölf, Morgenwind umflügelt die beschattete Bucht , dann kehrt der Vetter in die leere Wohnung zurück, sitzt kurz an dem Tisch, an dem er noch vorhin mit der alten Frau zum letzten Mal gemeinsam Tee getrunken hat. Es vert mir finster in die oygen . Dann schlägt die Uhr eins. Zur Metallsammlung hatte die alte Frau schon letztes Jahr ihren siebenarmigen Leuchter abgeben müssen. Der ist inzwischen sicher schon lange geschmolzen. Aber zumindest die Goethe-Ausgabe, immer drei oder vier Bände auf einmal, räumt der Mann nun in denselben Koffer, in dem er sie vor zwanzig Jahren auf seinem Karren hertransportiert hat, er hängt das Pendel der Uhr aus, schlägt die Uhr in einen Polsterbezug ein, bindet aus der Uhr ein Paket, das er in einen Kohlesack stecken und sich so über die Schulter hängen kann. Mit Koffer und Sack verlässt er die Wohnung, die jetzt schon ganz und gar ausgekühlt ist, auf dem Wasser im Eimer hat sich bereits eine dünne Eisschicht gebildet. Hätte er nicht das Pendel in die Brusttasche seiner Jacke gesteckt, würde er glauben, er höre durch den Sack und durch das weiche Tuch hindurch wie unter Schnee die Uhr noch immer ticken, könnte schwören, dass sich hinter seinem Rücken noch immer die Zeiger bewegen. Die alte Frau hat ja, bevor sie den Weg in die Malzgasse antrat, die Uhr noch einmal aufgezogen, so wie sie es jeden Morgen in den letzten fünfzig Jahren getan hat. Mit der angehaltenen Uhr auf dem Rücken geht der Vetter durch die Februarkälte, das Pendel schaut mit dem feinen Häkchen aus seiner Brusttasche heraus, und der Schlüssel zum Aufziehen steckt in seiner Hosentasche und wird langsam warm. Der Vetter geht in die Gegend um den Arenbergplatz, klingelt, spricht mit irgendwem, nickt, fährt dann mit der Straßenbahn in die Mariahilfer Straße 117, klingelt, spricht, nickt, fährt dann in die Linzer Straße 439, klingelt, spricht, Haidgasse 4, zum Schluss steht er in der Dampfschiffstraße 10/6 im II . Bezirk vor einer Tür, klingelt, spricht, und wird dort endlich seine Last los, die jetzt ein Erbe geworden ist, die eine Frau an etwas erinnert, an das sie nicht erinnert werden wollte, die Dinge sprechen ohne zu sprechen, und die Frau weiß jetzt, was sie nicht wissen wollte, nämlich dass es einen Moment gibt, in dem es für immer zu spät ist. Zuletzt noch den warmgewordenen Schlüssel aus der Hosentasche des Vetters, achja, und das Pendel. Die Frau nimmt
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