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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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Schwester Katrin hat Frau Hoffmann beim Umziehen geholfen und ihr das Wasserglas gehalten, während diese auf der Bettkante gesessen und ihre Medikamente eingenommen hat. Dann ist Schwester Katrin gegangen.
    Frau Hoffmann sieht ganz genau, dass inzwischen jemand in ihrem Sessel am Fenster Platz genommen hat. Und obwohl sie sie lang nicht gesehen hat, erkennt sie sie sofort wieder. Vor dem gelben Abendhimmel sieht sie wie ein Schattenriss aus.
    Ich bin jetzt in einem Stadium des Übergangs, sagt Frau Hoffmann.
    Die Mutter schweigt.
    Und ich weiß nicht, was ich machen soll, sagt Frau Hoffmann.
    Die Mutter schweigt.
    Es ist die Frage, ob ich durchkomme gegen den. Er ist sehr mächtig, er ist sehr gemein zu mir. Ich hätte um ein bisschen mehr Liebenswürdigkeit gebeten. Aber er hat kein bisschen Liebenswürdigkeit. Er ist grob und gemein zu mir.
    Die Mutter schweigt.
    Es wird ein verdammter Kampf. Ich greife ja nicht an. E r greift an, oder s i e. E r oder s i e greift mich an, von allen Seiten. Und ich will doch nicht – ich habe doch noch so viele, so viele Möglichkeiten. Ich weiß vieles nicht mehr, aber doch etwas…
    Ach, Maideleh, sagt die Mutter da plötzlich, und ihre Stimme hört sich gar nicht so alt an.
    Ich würde gern etwas gegen diesen Herrn oder diese Dame unternehmen, weißt du, sagt Frau Hoffmann. Bis jetzt hat es keinen gegeben, keinen!, der es gewagt hätte, mit mir zu kämpfen.
    Nicht einmal ich, sagt die Mutter und lächelt.
    Nicht einmal du, sagt Frau Hoffmann.
    Am Anfang der Woche, in der sie, einen Tag nach ihrem neunzigsten Geburtstag, sterben wird, lächelt Frau Hoffmann zum ersten Mal in ihrem Leben gemeinsam mit ihrer Mutter.
    Du musst eins wissen, Kind, sagt die Mutter:
    In Wahrheit kann man ihn mit einer Handvoll Schnee erschrecken.
    Tatsächlich?, sagt Frau Hoffmann erleichtert.
    Aber dann fällt ihr ein, dass Mai ist.
    2
    K omm, lieber Mai, und mache
    Die Bäume wieder grün.
    Und lass uns an dem Bache
    Die kleinen Veilchen sehen.
    Wie möcht’ ich doch so gerne
    Ein Veilchen wieder sehen
    Ach, lieber Mai, wie gerne
    Einmal spazierengehen.
    Fünf Jahre alt oder sechs oder sieben waren sie, als sie das Lied gelernt haben. Jetzt sitzen sie hier und singen es mit ihren altgewordenen Stimmen, ins Alter eingesperrt wie in ein Gefängnis, sie sind immer noch die, die sie mit fünf, sechs oder sieben Jahren waren, und sind gleichzeitig unaufhebbar weit davon entfernt, vielleicht werden sie nicht einmal das Ende des Monats, den sie besingen, erleben, liegen, wenn der Gärtner im Herbst die Blätter zusammenharkt, die sich jetzt gerade entfalten, vielleicht schon unter der Erde. Dienstags von zehn bis elf ist Gesangskreis. Sonst ist am Dienstag nichts, nachmittags kommt kein Herr Zabel, und ihr Sohn kommt auch nicht, am Sonnabend, hat er gesagt, holt er sie ab und macht mit ihr einen Ausflug. Was ist ein Dienstag? Zum Mittag gibt es Verlorene Eier, zum Kaffee ein Stück Kuchen mit Sahne, draußen beginnt es zu nieseln und hört bis zum Abend nicht wieder auf. Einmal bittet Frau Hoffmann Schwester Katrin, das Fenster zu öffnen, und zieht in tiefen Zügen die feuchtwarme Luft ein, nach Blättern riecht es, so wie damals, als sie mit ihrer Freundin an der Donau im Freien übernachtet hat. Frau Buschwitz schläft, wie auch sonst oft, mit Kopfhörern ein.
    Wir haben uns vorgenommen, wir werden es alles machen.
    Und dann ist es so armselig geworden.
    Wir haben versucht, alles zu machen, aber wir haben es falsch gemacht.
    Wenn Frau Hoffmann heute Nacht stürbe, wären das ihre letzten Worte, aber es wäre niemand da, um sie zu hören.
    Am Mittwoch sagt Frau Millner zu Schwester Renate beim Frühstück, dass sie immer zwei Scheiben Toast isst. Ich weiß, sagt Schwester Renate, laut genug, damit Frau Millner, die schwerhörig ist, sie auch hören kann. Frau Millner sagt: Eine mit Marmelade und eine mit Honig. Ich weiß, sagt Schwester Renate. Ihr Mann aber habe immer nur eine gegessen. Na, wenn er nicht mehr Appetit hatte, sagt Schwester Renate. Ja, aber das war ein Fehler, sagt Frau Millner, sonst würde er jetzt vielleicht noch leben. Essen hält Leib und Seele zusammen, sagt Schwester Renate. Genau, sagt Frau Millner.
    Was ist ein Mittwoch?
    Neben Frau Millner sitzt Frau Hoffmann mit geschlossenen Augen und zählt die Sekunden, weil sie weiß, dass seit 8 Uhr mit den Erschießungen begonnen wurde. Pro Minute werden jeweils zehn Häftlinge erschossen. Sie zählt stumm für sich bis zehn, nickt zu
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