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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Autoren: Jenny Erpenbeck
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nicht zu vergessen, wie ihr Körper beim Mittagschlaf aussah? Wieviele Hüllen und Dinge wird er brauchen, damit sie wenigstens ihr Erinnerungsleben in seinem Kopf behält? Aber wahrscheinlich wird die Mutter, mit ihren Händen aus dem Totenreich herübergreifend, sich an keinem Ding, keinem Einrichtungsgegenstand, keinem Stück ihrer Kleidung so gut festhalten können wie an ihm selbst, dem sie zuerst ihren Herzschlag vererbt, dann, als er noch klein war, die Windeln gewechselt und die Nase geputzt, den sie immer wieder angeschaut hat, immer wieder betrachtet und angesehen hat, dem sie später, als er größer wurde, die Sprache beigebracht und vorgelesen hat, den sie an der Hand über jede größere Straße geführt, dem sie die Haare gekämmt, den Pullover übergezogen und die Schuhe zugebunden hat, den sie immer wieder angeschaut hat, immer wieder betrachtet und angesehen hat, den sie, wenn er hinfiel, tröstete, dem sie Fieber gemessen und Radfahren beigebracht hat, dem sie gesagt hat, was sie gut und richtig findet, und was falsch, was langweilig, lustig, interessant, den sie immer wieder angeschaut hat, immer wieder betrachtet und angesehen hat, den sie gescholten hat, angeschrien und verwünscht, und dann wieder gelobt und geküsst. Zum ersten Mal versucht er jetzt, sich selbst mit den Augen der Mutter, sozusagen von außen, zu sehen, aber das fällt ihm schwer. Merkwürdig, denkt er, dass man ausgerechnet den Ort als toten Winkel bezeichnet, der einem, um etwas erkennen zu können, zu nah ist. Dennoch ist es der Erinnerung wahrscheinlich viel lieber, wenn sie für das bisschen Blindheit einen lebendigen Körper eintauscht.
    In den Frühjahrsferien wird er damit beginnen, das Haus leerzuräumen, denn im Sommer soll er in ein Heim übersiedeln, für das eine Jahr, bis er volljährig ist, hat der gesetzliche Vormund gesagt.
    Als es klingelt, weiß er, es kann an einem Sonntag weder die Post sein noch die Haushälterin.
    Der Mann sieht ihn mit seinen eigenen graublauen Augen an, und der Mund des Mannes sieht genauso aus wie sein eigener Mund, den er jeden Morgen im Spiegel sieht. Mit genau einer solchen brüchigen Stimme, wie er sie selbst hat, räuspert der Mann sich jetzt und sagt Guten Tag auf Russisch.
    In der Stille, die nun folgt, mischt sich das deutsche mit dem russischen Schweigen.
    Und dann packt der Vater den Jungen beim Haarschopf und zieht ihn zu sich.
    Wie ein erschöpfter Boxer verharrt der Junge kurz in der Umarmung, bevor er sich wieder abstößt.
    Vom Flur aus kann man ins Arbeitszimmer der Mutter hineinsehen.
    Hat sie da geschrieben?, fragt der Vater.
    Ja.
    Machst du uns einen Tee?
    Der Junge nickt.
    Während der Junge Teewasser aufsetzt, Tassen aus dem Schrank nimmt und Tee, und schließlich das Wasser aufgießt, lehnt der Vater am Türrahmen und schaut zu, wie sein Sohn herumgeht, hantiert, Dinge nimmt oder hinstellt.
    Als der Tee fertig ist, nimmt der Vater die Kanne und geht voran.
    Lass uns hier sitzen, sagt der Vater und betritt das Arbeitszimmer der Mutter.
    Zum ersten Mal, seit der Junge denken kann, setzt sich ein Besucher nicht ins Empfangszimmer, sondern an den kleinen Teetisch im Arbeitszimmer der Mutter. An der Wand hängt der Wandbehang mit der riesigen gelben Sonne.
    Wohnen Sie eigentlich wirklich in Charkow?
    Warum in Charkow?
    Der Junge zuckt mit den Schultern.
    Vornübergebeugt sitzt er auf dem Stuhl und hält die Tasse in den Händen.
    Der Vater hört erst nur ein gleichmäßiges Tropfen und sieht dann, wie sich in der Teetasse seines Sohnes Ringe bilden, immer wenn wieder eine neue Träne von dessen Nasenspitze in den Tee hinein fällt.
    Als ich deine Mutter traf, hatte sie auch gerade eine schwere Zeit.
    Alles fing damit an, dass sie plötzlich zu weinen begann, als ich sie fragte, ob ihr Mann schon wieder da sei.
    In dem Taschentuch, das ich ihr geben wollte, war noch ein Knoten.
    Er war so fest geknüpft, dass ich ihn nicht gleich aufbekam.
    Das war der Anfang.
    Brauchst du vielleicht auch eins?
    Ja, bitte.
    Der Vater zieht ein gebügeltes Taschentuch aus der Hosentasche und reicht es seinem Sohn.
    Woran sollte der Knoten Sie denn erinnern?
    Daran, dass abends eine Versammlung ist.
    Und dann?
    Hab ich die Versammlung vergessen.

INTERMEZZO

N ur fünf Minuten später die Treppe hinunter und den Eingang in die Unterwelt verfehlen, der sich dann schon weitergeschoben hat und einem oder einer andern sein Loch hinhält, mit dem rechten Fuß auftreten statt mit dem linken und
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