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Allein in der Wildnis

Allein in der Wildnis

Titel: Allein in der Wildnis
Autoren: Gary Paulsen
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heulte beinahe vor Wut. Er war hilflos. Unfähig etwas zu tun. Als aber die Sonne am Himmel höher kletterte und ihre Wärme durch seine feuchten, dampfenden Kleider drang, ließen die Moskitos von ihm ab und verschwanden. Ganz plötzlich, von einer Minute zur anderen. Eben noch schwirrten sie um seinen Kopf – dann waren sie verschwunden und die Sonnenstrahlen wärmten ihn.
    Blutrünstige Vampire!, dachte er. Anscheinend scheuten sie wohl die finstere Nacht, weil es zu kalt war, und liebten auch nicht das direkte Sonnenlicht. Aber im grauen Zwielicht des Morgens, wenn es wärmer wurde und die Sonne noch nicht mit voller Kraft strahlte, griffen sie an – in schwirrenden Geschwadern. In all den Abenteuerbüchern, die Brian gelesen hatte, in allen Fernsehfilmen über das freie Leben in der Wildnis war nie von diesen Mücken und Moskitos die Rede gewesen. Gezeigt wurden nur glückliche Menschen in unberührter Natur, herrliche Landschaften – oder Tiere, die fröhlich durch die Gegend sprangen. Blutgierige Moskitos gab es da nicht.
    Mühsam gegen den Baumstamm gestützt zog er sich in die Höhe. Seine Knochen knackten und schmerzten. Auch sein Rücken hatte anscheinend etwas abgekriegt. Als er sich streckte, schien es, als wollten die Muskeln unter den Schulterblättern zerreißen. An der Stirn hatte der Schmerz etwas nachgelassen. Doch als er aufrecht zu stehen versuchte, war er so schwach, dass er beinahe zusammenbrach.
    Seine Hände waren dick angeschwollen. Seine Augen waren von unzähligen Mückenstichen verquollen. Nur unter Qualen spähte er durch zwei schmale Schlitze.
    Gerade jetzt, wo es so viel zu sehen gäbe!, dachte er und rieb seine juckenden Augenlider. Tiefblau und ruhig lag vor ihm der See. Plötzlich sah er in seiner Fantasie erneut das Flugzeug tief unten in blauer Kälte – der tote Pilot in seinem Sitz, sein Haar in den Wassern schwebend.
    Brian schüttelte energisch den Kopf. Daran wollte er jetzt nicht denken.
    Viel wichtiger war es, sich einen Überblick über die Umgebung zu verschaffen. Weit dehnte sich die reglose Oberfläche des Sees. Brian stand genau an der Stelle, wo sich die beiden L-förmigen Arme der Wasserfläche trafen: der längere vor ihm, der kürzere zu seiner Rechten. Im ersten Morgenlicht lag der Wasserspiegel vollkommen glatt und ruhig. Er sah das Spiegelbild des Waldes am jenseitigen Ufer des Sees. Kopfstehend auf der Wasserfläche war da ein zweiter Wald: ein umgekehrtes Abbild der wirklichen Bäume dort drüben. Brian stand und schaute, während ein großer Vogel – eine Krähe vielleicht, aber er war viel größer – vom jenseitigen, wirklichen Waldrücken herabschwebte und mit schwerem Flügelschlag über das Wasser glitt, knapp über seinem Spiegelbild auf der leuchtenden Fläche des Sees.
    Grün war diese Welt, eine grüne Wildnis, so weit das Auge blickte. Hoch ragende Fichten und Kiefern bildeten einen dichten Wald, der die Hügelflanken bedeckte. Dazwischen leuchteten hellgrünes Buschwerk und satte Wiesen, auf denen sich einzelne Büsche im sanften Wind wiegten. Brian, in der Großstadt aufgewachsen, kannte kaum die Namen all dieser Naturwunder. Die Laubbäume dort, mit ihren im Wind raschelnden Blättern – waren es Zitterpappeln?
    Hügelig war die Landschaft rings um den See. Flache Kuppen reihten sich wellenförmig aneinander, nur hie und da in kahles Gestein abbrechend. Aber dort links, direkt am Ufer, ragte eine Felsenklippe zwanzig Fuß hoch über den See.
    Nicht auszudenken, wenn das Flugzeug dort abgestürzt wäre! Nie hätte es die rettende Wasserfläche erreicht. Es wäre unweigerlich an den Felsen zerschellt und Brian mit ihm.
    Vernichtet.
    Ein hartes, endgültiges Wort. Er wäre vernichtet worden, zerfetzt und zerschmettert. Jämmerlich an den Felsen zerschellt.
    Glück gehabt!, dachte Brian. Er hatte unwahrscheinliches Glück gehabt. Oder doch nicht?, grübelte er. War es denn Glück, dass seine Eltern sich scheiden ließen, dass er von dem Geheimnis erfuhr und dann in ein Flugzeug stieg – zu einem Piloten, der einen Herzinfarkt hatte, so dass Brian mit knapper Not der Vernichtung entging?
    Glück oder Pech gehabt? Brian schüttelte widerwillig den Kopf. Jetzt war nicht die Zeit, an solche Probleme zu denken. Besser war es, sich einen Überblick über die neue, fremde Umgebung zu verschaffen.
    Die Felsklippe am Ufer war abgerundet und ausgewaschen, aus hellem Sandstein und mit dunkleren Steinschichten gemasert. Direkt gegenüber, am jenseitigen
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