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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich
Autoren: Simone de Beauvoir
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den rotbemalten Pfahl und stießen wilde Schreie aus, sie tanzten, sie zerschmetterten die Köpfe der Neugeborenen an den Häuserwänden, bengalische Feuer erhellten die Nacht; sie warfen Fackeln in die Paläste, die Pflastersteine waren rot von Blut, gestickte Fahnen flatterten von Fenstern und Balkonen, an den Laternen schwangen schlaffe Körper hin und her, Schreckensschreie, Freudenschreie, Totengesänge und Friedenskantaten, Gläsergeklirr und Waffenlärm, Stöhnen und Lachen stieg zum gelben Himmel empor. Dann senkte sich Schweigen herab; auf den wiederhergestellten Plätzen holten die Hausfrauen Wasser für den Tag, sie wiegten die Neugeborenen, die Webstühle schnurrten wieder, und die Weberschiffchen sausten auf und ab, die Toten waren tot, und die Lebenden lebten. Carmona stagnierte auf seinem Felsen, regungslos wie ein großer Pilz, die Langeweile schien drückend unter dem Himmel zu liegen, bis die Erde endlich von neuen Flammen aufgewühlt war; eine neue Stimme, immer die gleiche Stimme, und doch stets eine andere, erhob sich in der Nacht: «Es lebe die Republik!» Auf der Lafette stehend, sang noch immer die Frau.
    «Morgen werden wir wieder von neuem kämpfen müssen», sagte Armand. «Aber heute sind wir Sieger. Was auch kommen mag, dies hier ist ein Sieg!»
    «Ja.»
    Ich sah ihn an. Ich sah Spinelli und Laure an. Heute. Für sie hatte dies Wort einen Sinn. Für sie gab es eine Zukunft und eine Vergangenheit: es gab eine Gegenwart für sie. Mitten auf dem Fluß, der von Norden nach Süden floß – oder war es nach Westen?   –, lächelte er: ich liebe diese Stunde! Isabella schritt langsam durch den Garten dahin, die Sonnespielte auf den schönen dunklen Möbeln, und der Kaiser strich lächelnd über seinen seidigen Bart; mitten auf dem Platz erhob sich der Scheiterhaufen, den in tiefer Sammlung eine Menschenmenge umstand, singend kamen sie näher; ihre ganze Vergangenheit preßten sie an ihr Herz. «Nieder mit der Republik!» hatte das Volk geschrien, und er hatte geweint; weil er geweint hatte und weil er in diesem Augenblick lächelte, war sein Sieg ein wahrer Sieg, die Zukunft vermochte dagegen nichts; er wußte, er würde morgen von neuem wollen, ablehnen, kämpfen; es konnte nicht anders sein; morgen würde er wieder beginnen, doch heute war er Sieger. Sie sahen sich an und lachten: heute haben wir gesiegt. Sie sprachen untereinander, und weil sie sich so ansahen und miteinander redeten, wußten sie, daß sie weder Eintagsfliegen noch Ameisen waren, sondern Menschen, und daß es einen Sinn hatte, zu leben, zu kämpfen und Sieger zu sein; sie hatten etwas gewagt, sie hatten ihr Leben gegeben, um sich zu überzeugen, und waren überzeugt: es gab keine andere Wahrheit.
    Ich ging zur Tür; ich konnte mein Leben nicht einsetzen, ich konnte nicht mit ihnen lächeln, nie waren Tränen in meinen Augen, nie Feuer in meinem Herzen. Ein Mensch von nirgendwoher, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft und ohne Gegenwart. Ich wollte nichts, ich war niemand. Ich ging Schritt für Schritt dem Horizont zu, der immer vor mir entwich; die Wassertropfen sprühten auf und sanken wieder hinab, ein Augenblick vernichtete ewig den andern, meine Hände blieben immer leer. Ein Fremder war ich, ein Toter. Sie waren Menschen, sie lebten. Ich war keiner der Ihren. Ich hatte nichts zu hoffen, ich ging zur Tür hinaus.

Epilog
    Zum erstenmal, seitdem Fosca sprach, hatte seine Stimme gebebt; sein Kopf war herabgesunken; auf der Wachstuchdecke, neben der dicken blauen Tasse lagen seine Hände; er sah sie an, als kenne er sie nicht; er bewegte die Zeigefinger, den rechten erst, dann den linken, dann lagen sie wieder regungslos da.
    Regine sah sich um. Es war jetzt hell geworden; Bauern saßen an den Tischen, aßen Suppe und tranken Wein; in der Welt der Menschen begann ein neuer Tag; vor dem Fenster breitete sich ein blauer Himmel aus.
    «Und hinter jener Tür», fragte Regine, «was war da?»
    «Der Platz vor dem Rathaus, Paris. Und dann ein Weg, der sich in Feldern, im Wald, im Dickicht verlor, und dann tiefer Schlaf, 6o Jahre lang. Sie kamen und weckten mich auf, die Welt war noch immer die gleiche. Als ich ihnen sagte: ‹Ich habe 6o Jahre geschlafen›, haben sie mich in die Anstalt gebracht. Ich war nicht ungern dort.»
    «Erzählen Sie nicht so schnell», fiel ihm Regine ins Wort.
    Sie starrte auf die Tür und dachte: Wenn er fertig ist, muß ich dort durch die Tür, und da kommt dann wieder etwas, ich werde keinen Schlaf,
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