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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich
Autoren: Simone de Beauvoir
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nicht wahr.»
    «Ich versichere Sie, es ist so. Ich vermag nicht zu denken.»
    «Warum nicht?»
    «Wir wollen nicht von mir reden», sagte ich.
    «Doch, gerade von Ihnen.»
    «Die Worte haben für Sie und für mich nicht den gleichen Sinn.»
    «Ich weiß, Sie haben Armand einmal gesagt, Sie seien nicht von dieser Welt.» Ihr Blick glitt über meine Hände und dann zu meinem Gesicht. «Aber das stimmt nicht», sagte sie. «Da sitzen Sie neben mir, und wir reden. Sie sind ein Mensch; ein Mensch mit einem seltsamen Schicksal, gewiß aber doch ein Mensch, der hier auf Erden lebt.»
    Ihre Stimme bekam etwas Dringendes, halb Liebkosung, halb Appell: ganz von ferne, tief auf dem Grund, unter der kalten Asche und der erstarrten Lava fing etwas sich leise zu regen an. Die rauhe Rinde eines Baumes an meiner Wange, ein lila Kleid, das am Ende einer Allee verschwand.
    «Wenn Sie wollten», sagte sie, «könnte ich Ihnen eine Freundin sein.»
    «Sie verstehen nicht», sagte ich. «Niemand versteht, wer ich bin.»
    «Erklären Sie es mir.»
    Ich schüttelte den Kopf: «Sie sollten schlafen gehen.»
    «Ich habe keine Lust zu schlafen.»
    Ihre Hände lagen auf dem Tisch ruhig ausgestreckt, aber die Spitzen ihrer Finger tasteten auf dem Marmor umher. Allein hier neben mir, allein bei den Kameraden, ganz allein auf der Welt, mit all dieser Last von Leiden, die sie sich auf die Schultern lud.
    «Sie sind nicht glücklich», sagte sie.
    «Nein.»
    «Also!» sagte sie in plötzlich ausbrechender Glut. «Sie sehen, daß auch Sie dieser Menschenwelt angehören; man kann Sie bedauern, Sie lieben   …»
    Lachend zog sie den Duft der Rosen und der blühenden Linde ein: «Ich wußte ja, daß Sie unglücklich sind.» Und ich umschlang den Baum mit meinen beiden Armen: werde ich wieder lebendig? Unter der kalten Lava regte sich etwas wie warmer Dunst. Seit langem liebte sie mich, ich hatte es wohl bemerkt.
    «Eines Tages werden Sie tot sein, und ich werde Sie vergessen», sagte ich. «Schließt das nicht von vornherein jede Freundschaft aus?»
    «Nein», sagte sie. «Selbst wenn Sie mich vergessen, hat unsere Freundschaft doch existiert; die Zukunft ändert daran nichts.» Sie hob die Augen; ihr ganzes Gesicht war von ihrem Blick überstrahlt. «Jene ferne Zukunft, wo Sie mich vergessen werden, und die Vergangenheit, in der ich noch nicht war, nehme ich hin, sie sind beide ja von Ihnen ein Teil; Sie aber sind da mit dieser Zukunft und dieser Vergangenheit. Ich habe darüber nachgedacht und mir oftmals gesagt, daß die Zeit uns nicht trennen könnte, wenn Sie nur   …» Ihre Stimme versagte, doch sie fing sich sehrschnell: «…   wenn Sie nur etwas Freundschaft für mich empfinden könnten.»
    Ich schob meine Hand zu ihr hin. Durch die Kraft ihrer Liebe fühlte ich mich zum erstenmal seit Jahrhunderten, trotz der Vergangenheit und der Zukunft zum Trotz, ganz und gar gegenwärtig und vollkommen lebendig: ein Mann, von einer Frau geliebt; ein Mann mit wunderlichem Geschick, aber ein Mensch dieser Erde. Ich rührte jetzt ihre Finger an. Ein Wort nur, und die Rinde zerbarst, und von neuem würde die heiße Lava des Lebens darunter quellen; die Welt würde wieder ein Antlitz bekommen; es würde wieder Erwartung, Freuden und Tränen geben.
    Sehr leise sagte sie: «Ich möchte Sie lieben dürfen.»
    Ein paar Tage, ein paar Jahre lang. Dann liegt sie da auf dem Bett mit dem geschrumpften Gesicht; die Farben sind unrein geworden, der Himmel ist erloschen, die Düfte sind kalt und schal: «Du wirst mich vergessen.» Ihr Bild gerinnt zum Inhalt jenes ovalen Rahmens. Es gibt keine Worte mehr, zu sagen: Sie ist nicht da. Wo denn ist sie nicht? Ich sehe rings um mich her keinen leeren Platz.
    «Nein», sagte ich. «Es hat keinen Zweck. Gar nichts hat einen Zweck.»
    «Bedeute ich denn nichts für Sie?»
    Ich sah sie an. Sie wußte, daß ich unsterblich war, sie hatte den Sinn dieses Wortes ermessen, und sie liebte mich: sie war fähig zu solcher Liebe. Hätte ich Menschenworte noch gebrauchen können, so hätte ich gesagt: Von allen Frauen, die ich gekannt habe, hat diese das größte Herz, die tiefste Leidenschaft, sie ist die reinste und edelste. Doch alle diese Worte bedeuteten nichts mehr für mich. Laure war schon eine Tote. Ich ließ ihre Hand wieder fallen.
    «Nichts, Sie können nicht verstehen.»
    Zusammengesunken saß sie wieder auf ihrer Bank und starrte im Spiegel gegenüber ihr eigenes Abbild an. Sie warallein, sie war müde; sie würde
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