Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
können Sie irgend etwas wünschen, wo Sie doch wissen, daß man es den Menschen niemals recht machen wird?»
    Er lächelte auf seine überlegene Art: «Wissen Sie nicht, was wirkliche Sehnsucht ist?»
    «O doch, ich weiß, ich habe mich auch gesehnt», sagte ich. Ich hielt einen Augenblick inne. «Aber es handelt sich doch nicht nur darum: Sie kämpfen für andere, Sie wollen sie glücklich machen   …»
    «Wir kämpfen alle zusammen für uns», sagte er. Er sah mich immer noch aufmerksam an. «Sie sprechen von den Menschen; Sie betrachten sie von außen her. Vielleicht würde auch ich, wenn ich Gott wäre, keinen Grund sehen, dies oder das für sie zu tun. Doch ich bin einer von ihnen; ich will mit ihnen, für sie ganz bestimmte Dinge an Stelle anderer Dinge; und ich will sie heute   …»
    «Ich wollte einst, daß Carmona frei sein sollte», sagte ich. «Und weil ich es vom Joch der Florentiner und Genueser gerettet habe, ist es mit Florenz und Genua untergegangen. Sie wollen die Republik, die Freiheit; wer hat Ihnen denn gesagt, daß ein Erfolg sie nicht zu noch schlimmerer Tyrannei führen wird? Wenn man lange genug gelebt hat, sieht man, daß jeder Sieg sich eines Tages in eine Niederlage verkehrt   …»
    Offenbar reizte ihn mein Ton, denn er fiel lebhaft ein: «Oh! Ich habe auch eine Ahnung von Geschichte; Sie sagen mir nichts Neues. Alles, was man tut, vergeht eines Tages wieder, ich weiß. Und von der Stunde an, wo man geborenwird, fängt man schon an zu sterben. Aber zwischen Geburt und Tod liegt doch eben das Leben.» Seine Stimme ebbte ab. «Ich glaube, der große Unterschied zwischen uns ist, daß ein menschliches, also vergängliches Los in Ihren Augen keine Bedeutung hat.»
    «Allerdings nicht», sagte ich.
    «Sie sind schon tief in der Zukunft», sagte er. «Sie sehen diesen Augenblick, als wäre er schon vergangen. Alle Dinge, die geschehen sind, kommen einem nichtig vor, wenn man sie nur von ihrem letzten Aspekt des Todes und Begrabenseins aus sieht. Daß Carmona zweihundert Jahre hindurch frei und groß gewesen ist, berührt Sie heute nicht mehr; aber Sie wissen doch, was Carmona für die war, die es liebten. Ich glaube nicht, daß Sie unrecht hatten, es gegen Genua zu verteidigen.»
    Die Wasserspiele sangen; ein weißes Wams glänzte auf vor den dunklen Eiben, und Antonio sagte: «Carmona ist meine Heimat   …»
    «Warum hat Garnier dann unrecht gehabt, das Kloster Saint-Merri zu verteidigen? Er wollte es verteidigen, und er hat es getan.»
    «Es war eine Tat ohne Zukunft», sagte Armand. Er überlegte einen Augenblick: «Meiner Meinung nach dürfen wir uns nur um die Zukunft kümmern, soweit wir Einfluß darauf nehmen können: aber wir müssen uns auch bemühen, diesen Machtbereich nach Kräften zu vergrößern.»
    «Sie tun das», sagte ich, «was Sie mir zum Vorwurf machen. Sie sehen Garniers Handlungsweise von außen her an, ohne daran teilzunehmen   …»
    «Vielleicht», sagte Armand. «Vielleicht habe ich kein Recht, ihn zu verurteilen.»
    Es herrschte Schweigen zwischen uns.
    «Sie geben zu», sagte ich dann, «daß Sie nur für eine begrenzte Zukunft arbeiten.»
    «Eine begrenzte Zukunft, ja; ein begrenztes Leben, das ist menschenlos und ist genug», sagte er. «Wenn ich denken könnte, daß es in fünfzig Jahren in den Fabriken keine Kinderarbeit mehr gibt und daß nicht mehr länger als zehn Stunden am Tage gearbeitet werden darf, daß das Volk sich selber seine Vertreter wählt und Pressefreiheit herrscht, so wäre ich zufrieden.» Von neuem ruhte sein Blick auf mir. «Sie werden finden, daß die Lage der Arbeiter wirklich schrecklich ist; denken Sie nur an die, die Sie gekannt haben, allein an diese: Haben Sie nicht Lust, bei der Besserung ihres Loses mitzuhelfen?»
    «Einst», sagte ich, «habe ich ein Kind lächeln sehen. Da ist es mir sehr wichtig erschienen, daß dieses Kind öfter lächeln kann. Ja; es gibt Augenblicke, wo mich so etwas berührt.» Ich sah ihm in die Augen: «Doch gibt es Augenblicke, wo einfach alles erlischt.»
    Er stand auf und legte die Hand auf meine Schulter: «Und wenn alles erlischt, was soll dann aus Ihnen werden?»
    «Ich weiß es nicht», sagte ich.
    Die Blumen, die Uhr an der Wand, die gelbgestreifte Tapete   … wenn ich diese Dinge verließe, wohin ginge ich dann? Wenn ich ihnen nicht folgte, was sollte ich dann tun?
    «Man muß in der Gegenwart leben, Fosca», sagte er mit drängender Stimme. «Mit uns und für uns: das heißt auch für
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher