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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich
Autoren: Simone de Beauvoir
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Sie   … Es muß so werden, daß die Gegenwart Ihnen wichtig ist.»
    «Aber mir erstarren ja die Worte im Mund», sagte ich. «Die Wünsche verdorren in meinem Herzen, und die Gebärden gefrieren an meinen Fingerspitzen.»
    In seinen Augen traf ich wieder auf jenen klaren, aufs Praktische gerichteten Blick, den ich so gut kannte.
    «Erlauben Sie uns wenigstens, daß wir uns Ihrer bedienen. Ihr Name, Ihre Person hat soviel Gewicht. Kommen Siezu unseren Banketten, unseren Versammlungen; begleiten Sie Laure in die Provinz.»
    Ich sagte nichts, aber er fuhr fort: «Sie wollen doch?»
    «Aus welchem Grunde», sagte ich, «sollte ich mich weigern?»
     
    «Zwei Francs im Monat», sagte Laure. «Und alle Arbeiter in den Spinnereien wären für den Fall von Krankheit, Arbeitslosigkeit, gegen Not im Alter gesichert. Ihr könntet sogar ein paar Tage die Arbeit niederlegen, wenn ihr meint, daß Streiken angebracht ist.»
    Sie hörten mit verdrossener und müder Miene zu: kaum eine Handvoll Leute. Es war in allen Städten dasselbe; sie waren zu verbraucht durch die Tagesarbeit, um noch die Kraft für andere Zukunftswünsche zu haben als ein Abendessen und dann nichts weiter als Schlaf; und ihre Frauen hatten Angst.
    «Wer wird das ganze Geld verwalten?» fragte einer.
    «Ihr würdet ein Komitee ernennen, das euch jeden Monat Rechnung ablegt.»
    «Das Komitee hätte sehr viel Macht.»
    «Ihr werdet seine Ausgaben kontrollieren.»
    «Wer übt die Kontrolle aus?»
    «Alle, die zu den Versammlungen kommen.»
    «Da kommt viel Geld zusammen», wiederholte der Mann.
    Sie hätten gern zwei Francs im Monat geopfert, aber sie fürchteten die geheime Macht, die einer von ihnen durch diese Hilfskasse ausüben würde: sie hatten Angst, sich damit neue Herren zu schaffen. Laure trieb sie mit ihrer leidenschaftlichen, zerbrochenen Stimme an; aber ihre Mienen schlossen sich nicht auf. Als wir aus dem Versammlungssaal traten, sagte sie seufzend zu mir: «Sie mißtrauen uns.»
    «Sie mißtrauen sich selbst.»
    «Ja», sagte sie. «Das ist ja auch kein Wunder: sie habenbisher nur immer ihre eigene Schwäche kennengelernt.» Sie zog den Schal fester um ihre Schultern; die Luft war milde, aber es regnete fein; seit wir in Rouen waren, hatte es unaufhörlich genieselt oder geregnet. «Ich habe mich erkältet.»
    «Kommen Sie, wir trinken einen heißen Grog vor dem Nachhausegehen.»
    Ihr Umschlagetuch war zu klein, ihre Schuhe nicht dicht. Als sie sich auf der lederbezogenen Bank niedergelassen hatte, sah ich die Schatten unter ihren Augen, die geröteten Nasenflügel. Sie hätte ruhig am Feuer sitzen, morgens ausschlafen können, schön sein, elegant und sicherlich auch geliebt. Aber sie zog auf den Landstraßen umher, aß schlecht, schlief kaum, pflegte nicht ihr Gesicht, richtete ihre Schuhe und ihre Kräfte zugrunde. Was hatte sie davon?
    «Sie überanstrengen sich.»
    Sie zuckte die Achseln.
    «Sie sollten sich mehr um sich selber kümmern.»
    «Man kann sich nicht um sich selbst kümmern», sagte sie.
    Etwas wie Bedauern schwang in ihrer Stimme. Armand kümmerte sich nicht viel um sie, Spinelli in einer Weise, die ihr nicht angenehm war. Ich selber begleitete sie durch die französischen Städte und sprach fast gar nicht mit ihr.
    «Ich bewundere Armand», sagte sie. «Er hat soviel Kraft in sich: niemals zweifelt er.»
    «Und Sie? Zweifeln Sie denn?»
    Sie stellte ihr Glas auf den Tisch; der dampfende Alkohol hatte ihre blassen Wangen rosiger gefärbt. «Sie haben keine Lust, anzuhören, was wir ihnen bringen wollen   … Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, man ließe sie in Frieden leben und sterben wie bisher.»
    «Und was täten dann Sie?»
    «Ich würde wieder in die warmen Länder gehen; da unten bin ich geboren. Ich würde in einer Hängematte unter Palmen ruhen und würde alles vergessen.»
    «Warum tun Sie das nicht?» fragte ich.
    «Ich kann nicht», sagte sie. «Tatsächlich könnte ich nicht vergessen. Es gibt zuviel Not, zuviel Leiden; ich würde es niemals ertragen.»
    «Selbst wenn Sie glücklich wären?»
    «Ich würde nicht glücklich sein.»
    In einem vergilbten Spiegel, der uns gegenüber hing, sah ich ihr Gesicht, ihre feuchten Haare unter der schwarzen Kappe, ihre samtenen Augen in dem ermüdeten Gesicht.
    «Trotz allem machen wir aber doch nützliche Arbeit?»
    «Gewiß.»
    Sie sah mich an und zuckte die Achseln: «Warum sagen Sie nie, was Sie denken?»
    «Ich denke halt nichts», sagte ich.
    «Das ist
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