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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich
Autoren: Simone de Beauvoir
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den Bambushütten lagen, Stöhnen stieg aus dem Staub auf, den die Bewaffneten aufgewirbelt hatten. Zwanzig oder sechzig Jahre lang nicht sterben; und dann schließlich doch sterben.
    «Zur Bastille!»
    Jetzt drängte sich die Menge auf dem Platz; sie hatten einen Lastwagen angehalten und häuften die Leichen darauf. «Zur Bastille!» riefen sie. Außerdem hörte man Stimmen: «Vergeltung! Man ermordet das Volk!» Laure war ganz weiß geworden; ihre Finger krallten sich in meinen Arm; sie hauchte: «Das ist jetzt die Revolution!» Die Sterbeglocke ertönte; der Wagen setzte sich in Bewegung. «Zur Bastille! Vergeltung!» Die Toten waren noch warm, ihr Blut auf dem Pflaster noch nicht geronnen; und doch waren sie schon für immer tot, und die Lebenden lebten weiter, als hätten sie niemals zu sterben brauchen; sie trugen diese gutwilligen Toten weiter im Leben mit sich fort. Die Glocke klang, aus allen Straßen strömten Scharen von Menschen, die Fahnen und Fackeln schwenkten; die Fackeln warfen einen roten Scheinauf das nasse Pflaster. Von Minute zu Minute schwoll der Zug noch mehr an, der Boulevard war überschwemmt von einer schwarzen Flut, die immer sich selber glich, zäh und lückenlos, eine ungeheure Menschenflut, kein Tropfen fehlte daran; die Pest ging vorüber, die Cholera, Hungersnot, Scheiterhaufen, Metzeleien, Kriege, Revolutionen, und immer waren sie unverändert da, die Toten in der Erde, die Lebenden auf der Erde, immer der gleiche Schaum   … Der Zug wogte dahin; sie marschierten zur Bastille, auf die Revolution, auf die Zukunft zu; die Tyrannei sollte gebrochen werden, und bald würde es keine Not, keine Klassen, keine Grenzen, keine Kriege, keinen Mord mehr geben; es wird ein Zeitalter kommen der Gerechtigkeit, Freiheit, Brüderlichkeit, bald wird die Vernunft die Welt regieren, meine Vernunft, ein weißes Segel verschwand am Horizont, die Menschen würden sich Muße und Wohlstand errungen haben, sie würden der Erde ihre Schätze entreißen, große, helle Städte bauen, ich rodete Wälder aus, ich machte Buschland urbar, große Verkehrswege zogen sich über den blau und gelb und grün gefleckten Globus hin, den ich in den Händen hielt, die Sonne überflutete das neue Jerusalem, in dem Männer einander den Friedenskuß gaben, sie tanzten um Freudenfeuer, sie tobten in düsteren Hinterzimmern, in duftenden Salons saßen sie und sprachen, sie redeten von den Kathedern aus mit gemessener, mit leiser, mit lauter Stimme, sie schrien es hinaus. «Vergeltung!» Dort in der Tiefe des schwarzen Boulevards tat in Rot und Gold ein Paradies sich auf, in dem das Glück den kupfernen Glanz lodernden Zornes hatte; auf dies Paradies marschierten sie zu; jeder Schritt brachte sie näher. Ich wanderte durch die endlose Ebene, die Binsen spien Wassertropfen aus unter meinem Schritt; Schritt für Schritt bewegte ich mich zum Horizont hin, der bei jedem Schritt entwich und an dem an jedem Abend die Sonne unterging wie ein sinkendes Schiff.
    «Es lebe die Reform!»
    Sie hatten unter den Fenstern der Redaktion haltgemacht. Armand erschien auf dem Balkon; er hielt sich am Eisengeländer fest und rief Worte hinaus, in der Ferne brannte eine Kirche, bengalische Feuer ließen die Statuen auf dem großen Platz blutig rot erscheinen. «Es lebe Antonio Fosca!» Auf Dächern, auf Bäumen sitzend, riefen sie: «Luther hoch!»; die Becher stießen klingend zusammen. Carlo Malatesta lachte, das Leben lohte auf; es lohte in Carmona, in Worms, in Gent, in Münster, in Paris, und auch gerade hier, in diesem Augenblick, im Herzen dieser Lebenden, die sterbliche Menschen waren. Meine Schritte gingen über die endlose Ebene hin, mit der Fußspitze prüfte ich den gefrorenen Boden, die Erde, die blind war, fremd und tot wie eine Zypresse, die keinen Winter und keine Blüten kannte.
    Sie setzten sich wieder in Bewegung, und eine Stimme rief in meinem Innern: «Marianne!» Sie hätte Augen zu sehen und Ohren zu hören gehabt, ihr Herz hätte hoch geschlagen; auch für sie hätte am Ende dieser schwarzen Straßen die Zukunft aufgestrahlt: Freiheit, Brüderlichkeit. Ich schloß die Augen; und da erschien sie mir, wie ich sie längst verloren hatte, in einem schwarz und rosa gestreiften Kleid, mit schön geordneten Locken und ihrem ruhigen Lächeln. «Marianne.» Ich sah sie vor mir; aber mit Widerwillen preßte sie sich an mich; sie haßte Unordnung, Gewalt, lautes Schreien, sie hätte sich von diesen ungekämmten Frauen ferngehalten und
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