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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich
Autoren: Simone de Beauvoir
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allein und müde altern müssen, ohne für die Gaben, die sie verschwendete und die keiner wollte, etwas zurückzuerhalten; für die anderen, ohne sie, gegen sie kämpfend, voller Zweifel an ihnen und zweifelnd an sich selbst. In meinem Herzen regte sich eines noch: Mitleid. Ich konnte sie herausholen aus diesem Leben; von meinen einstigen Reichtümern blieb mir noch genug, um sie in warme Länder zu führen; sie würde im Schatten von Palmenbäumen in einer Hängematte ruhen, und ich würde ihr sagen, ich liebte sie.
    «Laure.»
    Sie sah mich schüchtern lächelnd an; noch ein wenig Hoffnung stand in ihrem Blick. Beatrice beugte über das rote und goldene Manuskript ihr trübe und schwer gewordenes Gesicht. Ich hatte ihr gesagt: «Ich will dein Glück» und hatte sie endgültiger verloren als Antonio. Sie lächelte; aber warum sollte mir ihr Lächeln lieber sein als ihre Tränen? Man konnte ihnen nichts geben. Man konnte nichts wollen für sie, wenn man von ihnen nichts für sich selber wollte. Man hätte sie lieben müssen, doch ich liebte sie nicht. Ich wollte nichts.
    «Gehen Sie schlafen», sagte ich. «Es ist spät geworden.»
     
    In der Zypressenallee hoben und senkten sich sonnenhelle Flecke, wie von unsichtbaren Fäden bewegt, immer auf und ab, die Wassertropfen sprühten empor und fielen wieder ins Becken, immer der gleiche Schaum und immer ein anderer, die Ameisen liefen hin und her, tausend Ameisen zwar und doch immer dieselbe. Sie kamen und gingen in den Reformbüros, sie traten ans Fenster und traten zurück, klopften einander auf die Schulter, setzten sich, standen wieder auf und schwärmten unaufhörlich umher. Der Regen prasselte an die Fenster, sieben Farben, vier Jahreszeiten, und alle sprachen zu gleicher Zeit: Ist das die Revolution? Zum Erfolg derRevolution gehört, daß   … das Wohl Italiens, das Wohl Carmonas, die Sicherheit des Reiches, ihre Stimmen schwirrten, sie hielten die Hand am Revolvergriff, bereit zu sterben, um sich den Sinn ihres Lebens zu beweisen.
    «Ich möchte gern sehen, was vorgeht», sagte Laure. «Fosca, kommen Sie mit?»
    «Gern.»
    Auf der Straße waren viele Menschen. Der Regen prasselte schräg auf den Fahrdamm, auf die Dächer herab; man sah ein paar aufgespannte Regenschirme, aber die meisten gingen unbekümmert um die Nässe durch die Nacht.
«Le jour de gloire est arrivé.»
Sie sangen und hielten Fahnen und Fackeln in der Hand; alle Häuser waren erleuchtet, an den Wänden hingen Lampions und Papierlaternen, und an den Straßenecken kämpften gewaltige Feuerbrände gegen Wasser und Wind. «Zu den Waffen, Bürger!» Sie sangen. Freudenschreie, drohende Rufe, Gesänge drangen aus den Schenken hervor, der Lärm von Streitenden; der Tag der Gerechtigkeit ist da. «Zu den Waffen!» Sie ergossen sich auf die Straßen, tanzten um die Freudenfeuer und schwenkten ihre Fackeln. Immer der gleiche Schaum und immer ein anderer. «Nieder mit Guizot!» riefen sie. Viele von ihnen trugen umgehängte Gewehre. Auf Laures Lippen entstand ein eigenartiges Lächeln, sie schaute in der Ferne etwas, was mir verborgen blieb. Im Boot treibend auf der stillen Flut erblickte er in der Ferne die unsichtbare Mündung des Stroms in das Purpurmeer, die Mündung, die es nicht gab.
    «Gehen Sie nicht dort entlang!»
    Eine Frau, die sich in einem Haustor verborgen hatte, gab uns ein Zeichen, daß wir umkehren sollten. Die Straße vor uns lag verlassen da; irgendwo fiel ein Schuß. Die Leute blieben stehen. Laure faßte mich beim Arm; sie zog mich weiter durch die Menge, die zaudernd stehenblieb.
    «Ist das nicht unklug?» fragte ich.
    «Ich will wissen, was vorgeht.»
    Das erste, was wir sahen, war ein Mann in einer Bluse; er lag mit zu Boden gekehrtem Gesicht und ausgebreiteten Armen da, als habe er sich an das Pflaster festkrallen wollen, bevor er in den Tod hinunterglitt; der zweite starrte den Himmel mit weit offenen Augen an; manche röchelten noch; aus den benachbarten Straßen kamen Männer mit Bahren; ihre Fackeln beleuchteten das rote Pflaster, auf dem Leichen und Verwundete lagen; das Pflaster war mit Regenschirmen, Spazierstöcken, Hüten, zerbrochenen Laternen, zerrissenen Fahnen bedeckt. Die Plätze von Rom waren rot, in den Rinnsteinen balgten sich die Hunde um seltsame rosaweiße Dinge, ein Hund heulte auf, und Frauen und Kinder wandten ihre von Pferdehufen verstümmelten Gesichter zum Mond empor, Fliegen schwärmten rings um die Leichen her, die auf der gestampften Erde zwischen
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