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Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht

Titel: Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
Autoren: Wolfgang Burger
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»Okay, der italienische Eisverkäufer und diese kurzsichtige alte Nachbarin. Aber wer sagt uns, dass Gundram nicht später wieder heimgegangen ist? Weil er Durst hatte, zum Beispiel? Oder mit dem Rad gestürzt ist und sich das Knie aufgeschlagen hat?«
    »Und dann hätte die Mutter ihn einfach so kaltgemacht?«, meinte Balke belustigt. »Der Vater kommt ja nicht infrage. Der war ja nicht zu Hause.«
    Er trug heute eine dünne, rehbraune Lederjacke zum obligatorischen T-Shirt und einer nicht mehr ganz sauberen Jeans. An seinem linken Ohrläppchen entdeckte ich einen neuen Ring. Insgesamt zählte ich jetzt neun. Sechs rechts und drei links. Seine weißblonden Haare waren millimeterkurz geschnitten. Und seine Miene war finster entschlossen.
    »Behauptet er.« Vangelis, wie üblich im selbst geschneiderten Designerkostüm, schob konzentriert eine ihrer dunklen Locken hinters Ohr. »Aber niemand hat gesehen, wie Herr Sander von seiner Radtour zurückgekommen ist. Wir haben die Aussagen zweier Zeugen, die das Kind gegen drei Uhr ungefähr gleichzeitig auf der Straße gesehen haben. Und die Aussagen der Eltern. Und das ist alles. Punkt. Wir wissen nicht, was zwischen drei, halb vier und dem Zeitpunkt passiert ist, als der Vater wieder heimkam.«
    »Das soll gegen acht gewesen sein«, warf Balke ein.
    »Stopp!« Ich setzte meine ungeliebte Sehhilfe wieder auf die Nase, weil mir ohne sie die feineren Gefühlsregungen meiner Mitarbeiter entgingen. »Das ist mir alles zu spekulativ. Soweit wir wissen, gab es keinen Streit, bevor der Junge verschwand. Soweit wir wissen, ist er nicht geprügelt worden und nicht vernachlässigt. Die Mutter ist zwar eine – nun ja – eitle Zicke, aber sie soll immer gut für ihren Sohn gesorgt haben.«
    »Soweit wir wissen.« Balke betrachtete seine breiten Fingernägel aus wechselnden Perspektiven. »Vielleicht wissen wir ja das eine oder andere nicht?«
    Ich wandte mich an Vangelis. »Sie haben in den Tagen nach Gundrams Verschwinden stundenlang mit der Mutter gesprochen. Ihren Protokollen habe ich nichts entnommen, was einen solchen Verdacht stützen würde.«
    Sie schlug ihre sehenswerten Beine in weiß schimmernden Strümpfen übereinander. »Einen wirklichen Verdacht habe ich auch heute nicht. Nur das unbestimmte Gefühl, dass die Frau uns etwas verschweigt. Und dass sie sich schuldig fühlt.«
    »Würde das in ihrer Situation nicht jede Mutter der Welt tun?«
    Nach kurzer Denkpause ergriff Balke wieder das Wort: »Was könnte das denn sein, was sie verschweigt?«
    Vangelis hob die Schultern im Nadelstreifenblazer. »Diese Frau ist extrem kontrolliert. Von der hörst du kein unüberlegtes Wort. Und sie neigt – vorsichtig ausgedrückt – nicht zu emotionalen Ausbrüchen.«
    Durch die Tür zum Vorzimmer hörte ich Sonja Walldorf telefonieren, meine treue Sekretärin, die enormen Wert darauf legte, Sönnchen genannt zu werden. Schon als Kind hatte sie diesen Spitznamen gehabt und später auch, und damit basta. Ihr helles Lachen kam mir heute deplatziert vor, geradezu unanständig.
    Der Gedanke, Gundram Sander sei gar nicht entführt worden, war mir natürlich auch schon gekommen. Aber ich hatte die Idee bisher immer verworfen. Zugegeben, ich konnte Natascha Sander nicht ausstehen. Aber war sie tatsächlich zum Mord am eigenen Kind fähig? Andererseits – wie viele Menschen hatten mir im Lauf meiner Karriere schon gegenübergesessen und mit tränennassem Gesicht Verbrechen gestanden, die ich ihnen nie und nimmer zugetraut hätte? Warum eigentlich hatte ich es bis heute für undenkbar gehalten, dass die Mutter ihren kleinen Gundram selbst auf dem Gewissen hatte?
    »Es muss ja nicht gleich Mord oder Totschlag sein.« Vangelis’ Gedanken gingen offenbar in dieselbe Richtung wie meine. »Ein Unfall, an dem die Mutter sich die Schuld gibt. Anschließend eine Kurzschlussreaktion, vielleicht aus Angst vor der Reaktion des Vaters oder dem Gerede der Nachbarn, und plötzlich gibt es kein Zurück mehr, sondern nur noch die Flucht nach vorn.«
    Ich legte den Kopf in den Nacken. »Wenn wir uns da rantrauen«, sagte ich, »dann betreten wir ein Minenfeld, in dem wir alle unseren Hals riskieren.«
    Balke grinste breit. »No risk, no fun, Chef.«
    »Mit allen Nachbarn haben wir gesprochen.« Die schwarze Locke war Vangelis schon wieder ins Gesicht gerutscht. »Und mit allen Bekannten der Familie ebenfalls. Von familiären Problemen oder gar Misshandlungen des Jungen war nicht einmal gerüchteweise die
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