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Akte X

Akte X

Titel: Akte X
Autoren: Skin
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Infusionsflaschen und Rollwagen mit transportablen intensivmedizinischen Gerätschaften durch die Reihen. Auf den ersten Blick schien der ganze Raum im Chaos versunken zu sein; tatsächlich jedoch war dies eine komplizierte Vorstellung außerordentlich kontrollierter Arbeitsmethodik. Schwestern und Ärzte waren aufeinander eingespielt wie eine professionelle Sportlermannschaft, strotzend vor kinetischer Harmonie spielte jeder von ihnen die ihm zugedachte Rolle. Zusammengekauert in einer Ecke im hinteren Bereich der Notaufnahme, beobachtete Brad Alger das spektakuläre Schauspiel mit geweiteten Augen. Obwohl er erst seit zwanzig Minuten im Dienst war, war sein Gesicht bereits schweißnaß. Rote Flecken zierten die Ärmel seines
    weißen Arztkittels, und seine Nike-Boots hatten eine sonderbare, beinahe violette Farbe angenommen. Strahlendhell wie eine winzige Sonne standen seine platinblonden Haare in unordentlichen Locken vom Kopf ab. Um seine glasigen, blauen Augen lagen tief dunkle Ringe, und er sah aus, als hätte er seit Monaten nicht geschlafen.
    Mit einem feuchten Ärmel wischte er sich über die Stirn, ehe er rasch zur Seite sprang, als eine zerzauste Schwester einen Gerätewagen neben ihm an die Wand schob.
    »Jesus«, keuchte Alger mit leicht schriller Stimme. »Wir stehen ja knietief in Verwundeten. Ich dachte, schon die erste Fuhre wäre schlimm gewesen - aber das hier ist doch verrückt. Wie viele Krankenwagen werden erwartet?«
    »Zweiundzwanzig«, entgegnete die Schwester, während sie ein Paar blutverschmierter Latexhandschuhe auf den Boden warf. »Vielleicht noch mehr. Zuerst hieß es, neun Fahrzeuge seien in den Unfall verwickelt. Jetzt sagen sie, es sind vermutlich dreizehn.«
    Alger stieß einen Pfiff aus. »Dreizehn Wagen. Um zwei Uhr morgens.«
»Das ist wohl Ihre erste Freitagnacht.«
    Die Frau hatte kurzes, abstehendes dunkles Haar und freundliche Augen. Alger schätzte sie auf dreißig, vielleicht fünfunddreißig Jahre. Neben ihr kam er sich wie ein Kind vor, und es fiel ihm nicht leicht, das eingeschüchterte Klirren in seiner Stimme zu unterdrücken. »Meine Assistenzarztzeit hat am Sonntag begonnen.«
    Die Schwester gönnte ihm ein mitfühlendes Lächeln. »Willkommen in New York.« Sie zog ein Paar frischer Latexhandschuhe von dem Gerätewagen und stürzte sich wieder in das Getümmel. Wohl zum tausendsten Mal in nicht einmal einer Woche fragte sich Alger, was zur Hölle er hier zu suchen hatte.
    Noch vor einem Monat war er Medizinstudent im vierten Jahr in Cincinnati, Ohio, gewesen. Bis dahin hatten seine größten Sorgen der Finanzierung von Lehrgangsgebühren und seiner neuesten Ex gegolten. Zwar hatte er bereits eine Dienstrunde in der Notaufnahme in Cincinnati hinter sich, doch mit dem, was er hier zu sehen bekam, hatte er absolut nicht gerechnet.
    Der Abend hatte im Grunde ganz harmlos angefangen. Ein paar Herzgeschichten, eine Handvoll Neuzugänge im Messer-und-Pistolen-Club, ein halbes Dutzend Lungenkranke, die unter ihren Sauerstoffmasken heimlich Zigaretten schmuggelten. Dann kam der Notruf über die Kommunikationsanlage der Notaufnahme. Auf dem FDR-Drive* war es zu einer Massenkarambolage gekommen; mindestens zehn Verletzte in kritischem, weitere zwei Dutzend in schlechtem Zustand. Aus sämtlichen Abteilungen des Krankenhauses waren alle verfügbaren Ärzte angefordert worden, und in der Notaufnahme herrschte Tragödienalarm.
    Alger hatte einmal den Fehler begangen, Duke Baker, den riesenhaften, aufbrausenden Chefarzt, zu fragen, was das auf Englisch zu bedeuten hätte. Dem Duke wäre beinahe die Halsschlagader geplatzt, als er ihn zurechtgewiesen hatte; die meisten englischen Worte, die in der Notaufnahme des Dukes gesprochen wurden, eigneten sich kaum zur Wiedergabe. Tragödienalarm bedeutete schlicht, zu versuchen, vor dem Morgen niemanden umzubringen - und Duke Baker während dieser Bemühungen um jeden Preis aus dem Weg zu gehen.
    »Brad! Komm her!«
     
    Alger fühlte, wie sein Puls in die Höhe schnellte, als er Dennis Crow erblickte. Groß, dürr, mit einem wirren Schopf dunklen Haares und Sommersprossen auf jedem Quadratzentimeter unverhüllter Haut.
     
    * FDR: Franklin Delano Roosevelt, Anm. d. Übers.
    Crow war einer der vier Assistenzärzte, die gemeinsam mit Alger die Arbeit in dem Krankenhaus aufgenommen hatten, und er war der einzige, der hier noch mehr als er selbst fehl am Platz zu sein schien. Geboren und aufgewachsen auf einer Farm, hatte er an der
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