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Ahoi Polaroid

Ahoi Polaroid

Titel: Ahoi Polaroid
Autoren: Sobo Swobodnik
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sagt. Und dann zur näheren Erklärung: »Ihrer ist viel zu hoch!«
    Plotek, gefangen in den blauen Augen der Ärztin, nickte.
    »Ich fürchte, das liegt an Ihrer Ernährung.« Frau Hering ließ ihren Blick nur ganz kurz, aber dennoch vielsagend über Ploteks Bauch schweifen.
    »Essen Sie gerne Schweinsbraten?« Das war natürlich eine rhetorische Frage. Um das zu sehen, brauchte es keine Ärztin. Friseuse hätte auch gereicht. Finanzbuchhalterin, Feinmechanikerin. Alles. »Ich schlage vor, Sie stellen Ihren Speiseplan ein wenig um.«
    Sie kramte in einer ihrer Schubladen. Was Plotek einen kurzen Blick in ihr Dekollete ermöglichte und ihm hernach einen mittelprächtigen Schweißausbruch bescherte.
    »Ich gebe Ihnen da mal was mit.« Sie zog ein Merkblatt mit Ernährungstipps aus der Lade und reichte es Plotek. Von wegen »ein wenig«. Das war ziemlich viel. Zu viel. Das war kein Merkblatt. Das war eine Kampfansage an kulinarische Errungenschaften der Zivilisation. Eine Kriegserklärung an die mitteleuropäische Gourmetküche. An Schweinsbraten, Bratwurst, Bratkartoffeln, luftgetrocknete Salami, Serranoschinken, Schinken generell, Schokolade. Quasi: An alles, was schmeckte! Das Merkblatt der Frau Doktor beunruhigte Plotek mehr als seine gestauchten Rippen, die hässlichen Blutergüsse und die Platzwunden. Hier wurden nicht nur seine Essgewohnheiten, sondern sein bisheriges Leben, sein Lebenswandel generell in Frage gestellt. Und damit auch er selbst. Das würde nicht nur einen veränderten Speiseplan zur Folge haben, sondern auch eine handfeste Depression. Cholesterin okay, Psyche am Arsch. Das kann es ja wohl auch nicht sein, dachte Plotek. Und bestellte sich erst mal einen Schweinsbraten mit Biersauce und Semmelknödel.
    »Lass es dir schmecken«, sagte Susi und stellte das, was unter der Kategorie Bitte meiden auf dem Merkblatt stand, vor Plotek auf den Tresen. Es dampfte verführerisch und umschwänzelte seine Nase wie das Dekollete der Ärztin seine Augen. Aber denkste. Der Appetit war Plotek auf einmal vergangen.
    »Mensch, lass dich doch nicht so hängen!« Susi schenkte einen Tequila ein und stellte ihn vor Plotek auf den Tresen. »Wird schon wieder!«
    Und tatsächlich: Kurzeitiges Flackern im Dunkeln. Ein Licht, klein, spärlich. Mehr Kerze als Lampe. Aber ein Ende des Tunnels. Die Tür ging mit einem Rumms auf, und mitten in der Gaststätte erschien ein Rollstuhl, zitternd, wie vom badischen Beben herbeigebombt. Im Rollstuhl saß, als wären es die Heiligen Drei Könige, nur allein, ein Mann ohne Beine, dick, mit ballonähnlichem Bauch, bekleidet mit schwarzer Hose, schwarzer Jacke und weißem Hemd. In dem Gesicht strahlte durch den verwilderten Bart ein Lachen, das das des Dalai-Lama zu einer grimmigen Fratze degradierte. Am Rollstuhlgriff hing ein etwas größerer Sportbeutel aus Polyester.
    »Plotek!«
    Plotek drehte sich auf dem Barhocker um. Das Froh und Munter schien plötzlich wie die Wüste Sinai, und das Licht im Tunnel verstärkte sich zum brennenden Dornbusch: »Bist du’s?«
    Als Antwort erhielt er ein noch strahlenderes Lachen, das dabei schadhafte Zähne herzeigte wie kostbares Familienbesteck. »Ich bin, der Ich sein werde!«, sprach der Mann und bewies damit sein Gespür für außerordentliche Situationen und biblische Zusammenhänge.
    »Vinzi?«
    »Plotek!«
    »Das darf doch nicht wahr sein!« War es aber. Das war tatsächlich Vinzi, der Vinzi.
    Plotek sprang auf und Vinzi um den Hals. Ganz spontan. Was ihm kurze Zeit später ein wenig peinlich war. Plotek war keiner, der Küsschen verteilte. Keiner, der gern umarmte. Körperlicher Kontakt war ihm meist zuwider. Nur jetzt gerade nicht. Jetzt drückte er Vinzi, als ob sie sich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen und durch Zufall in der besagten Wüste getroffen hätten. Natürlich hätte Plotek fragen können, ja müssen, was den von der Schwäbischen
    Alb stammenden Vinzi nach München verschlagen hatte. Aber vergiss es. Musste er gar nicht. Wusste er ohnehin. Jetzt muss man wissen, dass Plotek und Vinzi sich erst vor ein paar Monaten auf der Beerdigung von Ploteks Vater im ostalbschwäbischen Lauterbach getroffen und angefreundet hatten. Und auch, dass im Zuge der Beerdigung und Ploteks Aufenthalt in Lauterbach ein paar unschöne bis ziemlich hässliche Dinge an die Oberfläche gespült worden waren. Aber viel wichtiger war, dass die beiden über Umwege und Unwägbarkeiten an ein Bild von Ernst Ludwig Kirchner geraten waren. Marcella
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