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Afterdark

Afterdark

Titel: Afterdark
Autoren: Haruki Murakami
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Haarbürste. Dann ist da noch ein begehbarer Wandschrank. Das einzige Dekor im Zimmer besteht aus fünf Fotografien in kleinen Rahmen, die auf dem Regal stehen. Alle zeigen Eri Asai selbst. Und auf allen ist sie allein. Nie wurde sie mit Familie oder Freundinnen aufgenommen. Es sind nur professionelle Fotos, für die sie Model gestanden hat. Vielleicht sind sie in Zeitschriften erschienen. Es gibt auch ein kleines Bücherregal, aber es enthält so wenige Bücher, dass man sie rasch zählen könnte. Meist Fachliteratur, die sie für die Universität braucht. Ansonsten liegt nur noch ein großer Stapel Modemagazine herum. Als Bücherwurm würde man Eri nicht gerade bezeichnen.
    Aus unserer Perspektive als schwebende Kamera nehmen wir die einzelnen Dinge im Zimmer lange und genau in Augenschein. Wir sind unsichtbare, namenlose Eindringlinge. Wir sehen. Wir lauschen. Wir riechen. Ohne indes physisch anwesend zu sein und Spuren zu hinterlassen. Wenn man so will, halten wir die gleichen Regeln ein wie wahre Zeitreisende. Wir beobachten, ohne einzugreifen. Doch um die Wahrheit zu sagen, sind die Informationen über Eri Asai, die wir diesem Zimmer entnehmen können, nicht gerade üppig. Es könnte der Eindruck entstehen, dass sich ihre Persönlichkeit vorsätzlich verbirgt und sich geschickt den Blicken der Betrachter entzieht.
    Lautlos, aber unablässig zeigt der Digitalwecker am Kopfende eine neue Uhrzeit an. Im Moment ist dies wohl die einzige Bewegung im Zimmer. Ein wachsames, elektronisches, nachtaktives Lebewesen. Scheu entschlüpfen die grünen Zahlen aus Flüssigkristall dem menschlichen Blick, wenn sie umspringen. Gegenwärtig ist es 23 Uhr 59.
    Unsere Kamera beendet die Betrachtung der Details, entfernt sich und schweift noch einmal über den ganzen Raum. Eine Weile behält sie unentschlossen die Weitwinkelperspektive bei. vorläufig wird ein Blickpunkt fixiert. Es bleibt still. Bald aber bleibt das Auge, als sei ihm etwas aufgefallen, am Fernsehapparat in der Ecke des Zimmers haften und geht näher heran. Es ist ein schwarzes, quadratisches Gerät von Sony. Der Bildschirm ist dunkel, tot wie die abgewandte Seite des Mondes. Aber die Kamera scheint dort irgendetwas wahrgenommen zu haben, so etwas wie ein Zeichen oder einen Anhaltspunkt. Großaufnahme vom Bildschirm. Wortlos schließen wir uns der Kamera an und suchen nach Zeichen oder Anhaltspunkten auf dem Bildschirm. Wir warten. Lauschen mit angehaltenem Atem.
    Die Uhr zeigt 0:00 an. Wir vernehmen einen durchdringenden elektronischen Ton. Gleichzeitig beginnt der Fernsehapparat leicht zu flimmern. Hat ihn jemand unbemerkt eingeschaltet? Oder war er von vorneherein so programmiert? Nein, weder noch. Die Kamera fährt hinter die unsichtbare Rückseite des Geräts und offenbart, dass der Stecker herausgezogen ist. Eigentlich müsste der Apparat tot sein und sein hartes, kaltes mitternächtliches Schweigen wahren. Logischerweise, theoretisch. Aber er ist nicht tot.
    Ein Testbild erscheint, flimmert, verschwimmt und verschwindet. Dann taucht es abermals auf. Der schrille Ton bricht währenddessen nicht ab. Bald erscheint etwas auf dem Bildschirm, ein Bild beginnt Gestalt anzunehmen. Doch gleich darauf verzerrt es sich wieder, kippt zur Seite wie eine kursive Schrift und verlischt wie eine Flamme, die ausgeblasen wird. Anschließend wiederholt sich das Gleiche noch einmal von Anfang an. Mit aller Kraft will sich ein Bild aufbauen. Etwas dort versucht, Gestalt anzunehmen. Aber es fügt sich nicht zusammen. Das Bild ist verzerrt, als würde die Antenne von einem starken Wind gepeitscht. Die Botschaft zerbirst, ihre Konturen lösen sich auf und zerstreuen sich. Die Kamera überträgt uns diesen Teil des Ringens von Anfang bis Ende.
    Die Schlafende scheint von den seltsamen Vorgängen im Raum nichts zu bemerken. Sie reagiert weder auf das Licht noch auf den Ton. In vollkommener Abgeschlossenheit schläft sie einfach ruhig weiter. Nichts vermag ihren tiefen Schlaf zu stören. Der Fernsehapparat ist ein neuer Eindringling in diesem Zimmer. Natürlich sind auch wir Eindringlinge, doch im Gegensatz zu uns ist der neue weder ruhig noch unsichtbar. Auch nicht neutral. Instinktiv nehmen wir seine unzweifelhafte Absicht wahr, in den Raum einzugreifen.
    Das Bild kommt und geht, gewinnt jedoch allmählich an Stabilität. Irgendein Innenraum taucht auf. Er ist relativ groß und sieht aus wie ein Büro in einem Firmengebäude. Oder ein Klassenzimmer. Er hat große Fenster, und an der
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