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Afterdark

Afterdark

Titel: Afterdark
Autoren: Haruki Murakami
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zwischen einem Toaster und einer Posaune. Aber den zwischen Gucci und Prada erkennt sie auf den ersten Blick.«
    »Die Menschen operieren auf verschiedenen Schlachtfeldern.«
    Er lacht.
    Dann nimmt er aus seiner Jackentasche ein Notizbuch und schreibt mit Kuli etwas hinein. Er reißt die Seite heraus und gibt sie ihr.
    »Das ist meine Handynummer. Wenn irgendwas ist, ruf an. Hast du ein Handy?«
    Mari schüttelt den Kopf.
    »Hab ich's mir doch gedacht«, sagt er mit einer gewissen Bewunderung. »Mein Instinkt hat mir ins Ohr geflüstert: Dieses Mädchen mag bestimmt keine Handys.«
    Der Mann steht auf, zieht sich die Lederjacke an und nimmt den Posaunenkoffer. Auf seinem Gesicht hält sich noch der Schatten eines Lächelns. »Also dann.«
    Mari nickt ausdruckslos. Den Zettel, den sie bekommen hat, legt sie achtlos neben ihre Rechnung. Dann holt sie tief Luft, stützt die Wange in eine Hand und wendet sich wieder ihrer Lektüre zu. Leise ertönt April Fool von Burt Bacharach im Lokal.

2
    23.57 Uhr
    Es ist dunkel im Zimmer. Aber unsere Augen gewöhnen sich allmählich daran. Im Bett schläft eine Frau. Eine sehr schöne junge Frau. Es ist Maris ältere Schwester Eri. Eri Asai. Niemand hat es uns gesagt, aber aus irgendeinem Grund wissen wir, dass sie es ist. Wie dunkles Wasser wallt ihr schwarzes Haar über das Kissen.
    Wir betrachten sie. Oder vielleicht sollten wir sagen, wir stehlen einen Blick auf sie. Unser Blick ist zum Auge einer schwebenden Kamera geworden, mit der wir uns frei im Zimmer bewegen können. Momentan befindet sie sich direkt über dem Bett und nimmt Eris schlafendes Gesicht auf, ändert aber mit einer Art von menschlichem Blinzeln in regelmäßigen Abständen ihren Winkel. Eris wohlgeformte kleine Lippen sind zusammengepresst. Auf den ersten Blick kann man nicht erkennen, ob sie atmet. Doch bei genauerem Hinsehen lässt sich hin und wieder eine ganz sachte, kaum merkliche Bewegung an ihrer Kehle wahrnehmen. Sie atmet. Ihr Kopf liegt auf dem Kissen, als schaue sie zur Decke, doch in Wirklichkeit sieht sie nichts, denn ihre Lider sind fest geschlossen wie winterharte Knospen. Ihr Schlaf ist tief. Vielleicht träumt sie nicht einmal.
    Während wir Eri Asai betrachten, gewinnen wir allmählich den Eindruck, irgendetwas an ihrem Schlaf sei nicht normal. Er ist zu rein und vollkommen. Kein Muskel in ihrem Gesicht, keine Wimper regt sich. Ihr schlanker weißer Hals verharrt in tiefer Stille wie ein Kunstwerk. Ihr kleines Kinn mit der wohlgeformten Spitze erhebt sich in einem anmutigen Winkel. Auch wenn ein Mensch noch so tief schläft, dringt er nie so weit ins Reich des Schlafes vor, gibt er sein Bewusstsein nie so völlig auf. Doch unabhängig vom Bewusstsein werden alle lebenswichtigen Körperfunktionen aufrechterhalten. Atem- und Herzfrequenz sind auf ein Minimum gesenkt. Eri scheint sich auf einem schmalen Grat zwischen organischer und anorganischer Existenz zu bewegen - still und gewissenhaft. Aber wie und warum dieser Zustand hervorgerufen wurde, ist bisher nicht erkennbar. Eri Asais Schlaf ist so tief, als hätte man ihren Körper sorgfältig und vollständig mit warmem Wachs umhüllt. Was wir vor uns haben, ist eindeutig unvereinbar mit den Gesetzen der Natur. Soweit man es im Moment beurteilen kann.
    Die Kamera gleitet langsam zurück und überträgt nun den gesamten Raum. Auf der Suche nach Anhaltspunkten beginnt sie Einzelheiten ins Visier zu nehmen. Das Zimmer ist ohne Dekoration und lässt keinerlei Schlüsse auf die Hobbys oder die Persönlichkeit seiner Bewohnerin zu. Sähe man nicht ganz genau hin, merkte man wahrscheinlich nicht einmal, dass es sich um das Zimmer eines jungen Mädchens handelt. Nirgends sind Puppen, Stofftiere oder irgendwelche Ziergegenstände zu sehen. Keine Poster, nicht einmal ein Kalender. An der Fensterseite stehen ein alter Holzschreibtisch und ein Drehstuhl. Die Jalousie ist heruntergelassen. Auf dem Schreibtisch befinden sich eine einfache schwarze Leselampe und ein ganz neues (zugeklapptes) Notebook. In einem Henkelbecher stehen mehrere Kugelschreiber und Bleistifte.
    Das schlichte Holzbett, in dem Eri Asai schläft, steht an der Wand. Das Bettzeug ist weiß und nicht gemustert. In dem Regal an der gegenüberliegenden Wand sind eine Kompaktstereoanlage und mehrere CD-Ständer. Daneben gibt es ein Telefon und einen Fernsehapparat mit einem 18-Zoll-Bildschirm. Vor dem Spiegel der Frisierkommode liegen nur ein Döschen Lippenglanz und eine kleine runde
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