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Admiral

Admiral

Titel: Admiral
Autoren: T.C. Boyle
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verbitterte Menschen erlebt – ihren Vater, zum Beispiel, oder ihre Mutter –, und sie hatte sich geschworen, nie so zu werden, sich nie dieser hoffnungslosen Reue und Verzweiflung hinzugeben, die einen zerrieb, bis man nur noch vegetierte, doch jetzt war alles, was sie dachte, fühlte oder schmeckte, durch und durch bitter. Erhard war fort. Die Strikers ließen nicht mit sich reden. Ihre Mutter lag im Sterben, doch Admiral beherrschte ihr Leben. Sie hatte sich noch nie so schlecht gefühlt wie in dem Augenblick, als der Wagen über die Auffahrt gefahren war und Gretchen sie zur Rede gestellt hatte. Bis Admiral in der Ferne aufheulte, sich von Erhard losriss, um die Hausecke gerannt kam und sich mit einem gewaltigen, hervorragend koordinierten Satz in die Arme seiner Beschützerin warf. Und dann erschien Erhard mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern und sah schuldbewusst aus.
    »Ich glaube, ich hatte noch nicht das Vergnügen«, sagte Gretchen und setzte den Hund ab (der sogleich wieder aufsprang, diesmal zu Erhard). Sie warf Nisha einen Blick zu, bevor sie auf ihn zuging und die Hand ausstreckte.
    »Das, äh, das ist Erhard«, hörte Nisha sich sagen. »Er ist aus der Schweiz, und ich … ich hab ihn vorhin im Hundepark kennengelernt, und weil er auch einen afghanischen Windhund …«
    Erhard war so niedergeschlagen, wie sie ihn noch nie gesehen hatte, doch er rang sich eine Fälschung seines Lächelns ab und sagte: »Freut mich, Sie kennenzulernen«, während Gretchen bereits seine Hand losließ und sich zu Nisha wandte.
    »Das war eine nette Idee«, sagte sie, musterte die Hunde und verglich sie. »Schön, dass Sie die Initiative ergriffen haben, Nisha … aber Sie sollten wissen, dass Admiral nie irgendwelche Spielkameraden hier auf dem Grundstück gehabt hat, weder afghanische Windhunde noch irgendwelche anderen, und ich bin sicher, dass er auch nie mit jemandem zu tun hatte, der aus der Schweiz stammte, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    Nisha konnte nur nicken.
    »Nun«, sagte Gretchen, straffte die Schultern und wandte sich wieder zu Erhard. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte sie, »aber ich muss Sie bitten, Ihren Hund – wie heißt er eigentlich?«
    Erhard zog den Kopf ein. »Fred.«
    »Fred? Was für ein sonderbarer Name. Für einen Hund, meine ich. Er hat doch einen Stammbaum, oder?«
    »O ja, einen erstklassigen. Er ist absolut reinrassig.«
    Gretchen betrachtete den Hund zweifelnd und sah dann wieder Erhard an. »Ja, man sieht es ihm an«, sagte sie. »Und Afghanen sind wirklich großartige Hunde – wer könnte das besser beurteilen als wir? Ich weiß nicht, ob Nisha es Ihnen erzählt hat, aber Admiral ist ein ganz besonderer, ein sehr, sehr besonderer Hund, und wir können keine anderen Hunde auf unserem Grundstück dulden. Und ich möchte nicht unhöflich sein, aber« – ein strenger Blick zu Nisha – »fremde Menschen oder Hunde können wir hier nicht …« Sie ließ den Satz unvollendet und bemühte sich, noch einmal die kalte Maske eines Lächelns aufzusetzen. »War nett, Sie kennenzulernen«, wiederholte sie, und dann gab es nichts mehr zu sagen.
    Nisha hatte eine Weile gebraucht, um das alles zu verarbeiten. Immer wieder dachte sie, dass Erhard nur für eine Weile abgetaucht war und sich melden würde, dass zwischen ihnen doch etwas gewesen war, doch am Ende der zweiten Woche suchte sie ihn nicht mehr am Tor oder im Hundepark oder irgendwo sonst. Und während die Tage sich dahinschleppten, begriff sie ganz langsam, was ihre Rolle, ihre eigentliche Rolle war. Wenn Admiral seinem Schwanz nachjagte, ermunterte sie ihn. Wenn er an der Straße sein Geschäft verrichtete, stieß sie das feste Würstchen mit der Schuhspitze an, bis er sich hinunterbeugte und es fraß. Ja, sie lebte in der Vergangenheit, ihre Mutter lag im Sterben, und sie war für nichts und wieder nichts aufs College gegangen, aber sie war entschlossen, für sich selbst und Admiral eine neue Zukunft zu erschaffen, und wenn sie mit ihm zum Hundepark ging, blieb sie vor dem Tor stehen, damit er herumrennen konnte, wo er wirklich herumrennen wollte: auf der Straße, wo die Wagen vorüberfuhren und die Räder sich drehten und stillstanden und das Licht einfingen, bis es auf der ganzen Welt nichts anderes mehr gab. »Guter Hund«, sagte sie dann, »guter Hund.«

T.C. Boyle
    T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, unterrichtet an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser
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