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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition)
Autoren: Juli Zeh
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dass einer von uns über irgendetwas nachdenkt. Wir sitzen auf die Ellenbogen gestützt, ab und zu bringt die Kellnerin unaufgefordert neue Getränke, die wir austrinken. Wir sitzen wortlos zusammen auf eine Art, wie zwei leere Eimer nebeneinander stehen. Man weiß auf den ersten Blick, dass sie zusammengehören, auch wenn es eigentlich keinen offensichtlichen Grund dafür gibt.
    Ich schrecke auf, als mir der Lärm, der sich schon seit einiger Zeit an den Rändern meines Bewusstseins abspielt, endlich begreiflich wird. Draußen kracht es, als würden direkt über den Dachfirsten der Stadt flugzeuggroße Holzscheite von mächtigen Händen zerbrochen. Die Detonationen bringen meine Augenlider zum Flattern, mein Bauchfell vibriert. Ich bin verrückt, so lange hier herumzusitzen, etwas muss mich ausgeschaltet haben. Der Alkohol.
    Scheiße, rufe ich, Clara! Die braucht ihr doch jetzt nicht mehr.
    Ich warte nicht auf eine Antwort, ich springe auf.

32 Regen
    D raußen halte ich mich einen Moment an der Hauswand fest, um nicht sofort auf den Boden zu schlagen. Niemand folgt mir. Mein Blickfeld ist eng, die Schläfen fühlen sich eiskalt an, mein Kopf wird immer leichter, will sich vom Körper trennen und aufsteigen wie ein Gasballon, der Kinderhänden entwischt. Die Hausfassaden falten sich um mich herum zusammen und wieder auseinander, sie sind mit weißer Farbe marmoriert, die unnatürlich leuchtet wie unter Schwarzlicht. Gleich verliere ich das Bewusstsein. Der nächste Donnerschlag fährt mir in die Gedärme, mir wird unerträglich übel, meine Knie geben nach. Wenn ich jetzt wegtrete, kann ich sicher sein, Clara niemals wiederzusehen.
    Etwas trifft mich am Kopf. Es ist der erste Regentropfen, groß wie ein Tischtennisball. Ich renne los.
    Der Regen lässt den Menschen Buckel wachsen und nimmt ihnen die Hälse. Es wird ruckartig dunkler und dunkler, als würde die Sonne in Stößen sinken. Die Autos schwimmen langsam, mit angeschalteten Lichtern, auf Strömen von Wasser die Burggasse hinunter. Ich renne, ich bewege meinen Körper, als gehörte er jemand anderem, einem geübten Langstreckenläufer. Im Takt der Schritte führe ich die Arme an den Seiten, genau parallel zur Laufrichtung, und achte darauf, die Fäuste nicht zu ballen, wegen des Luftwiderstands. Jeder Schritt lässt Wasser aufspritzen bis über die Knie. Ich lausche dem Klatschen meiner Schuhe auf dem Asphalt, und nach einer Weile höre ich Unregelmäßigkeiten darin, den synchronen Marschschritt einer ganzen Armee. Wir sind viele. Wir rennen. Wir kommen zu spät.
    Der Wind frischt auf und bewegt den dichten Vorhang aus Regenschnüren, dahinter sehe ich überall Menschen, schattenhaft auf die Häuser zueilend, dunkel wie Schmutz in allen Ecken klebend. Sie müssen extra nach draußen gekommen sein, um vor dem Regen davonzulaufen. Von links und rechts kreuzen sie meine Bahn, ich bin der Einzige, der parallel zur Straße rennt und nicht zu den Rändern hin. Das ist nicht mehr dieselbe Stadt, das ist nicht mehr derselbe trockene, steinerne Hintergrund, vor dem sich während der letzten Wochen mein Leben abgespielt hat. Alles fließt und strömt, rutscht und gleitet unter mir und um mich herum. Ich erkenne die Straßenecken nicht mehr. Ich gerate in Panik bei dem Gedanken, die Häuserblocks könnten versinken und an anderem Ort wieder auftauchen, die Plätze tauschen, die Straßen sich neue Schneisen suchen; und ich würde unseren Hof nicht mehr finden, er läge irgendwo versteckt an anderer Stelle in diesem großen, in Unordnung geratenen Bauklotzkasten von Stadt.
    Da ist der Lerchenfeldergürtel, jetzt muss ich nach rechts, eigentlich war ich sicher, schon viel weiter zu sein. Das war jetzt noch nicht mal die Hälfte der Strecke. Ich muss die ganze Zeit daran denken, dass Clara möglicherweise in diesem Moment, nicht weit von hier, genauso schnell rennt wie ich, eine ebenso gerade Bahn durch das Wasser zieht, vielleicht sogar irgendwo hinter mir meinen Weg kreuzt, dem Westbahnhof zu. Beim Abbiegen in die Thaliastraße stürze ich fast, pralle seitlich gegen eine Bushaltestelle und reiße im letzten Moment einen Arm vor das Gesicht. Ich stoße mich ab von der Plexiglaswand, Liberté Toujours sagt die Werbung dahinter, und renne weiter, es gelingt mir sogar, das Tempo noch zu steigern.
    Ich habe schon lange nicht mehr so klar gesehen, schon lange kein so einfaches Ziel mehr gehabt. Ich muss zu ihr. Muss ihr sagen, dass alles vorbei ist, dass wir es geschafft
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