Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition)
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
ansehe, kann ich nur sagen, er hatte verdammt recht.
    Das haben die also schon zwei Jahre vorher gewusst, flüstere ich.
    Fast schmeiße ich meine Bierflasche um, als ich mir an die Stirn fassen will, Ross fängt sie für mich auf.
    Jedenfalls, sagt er, gehen wir seitdem andere Wege.
    Und ich gehe jetzt aufs Klo, sage ich.
    Auf dem Weg zur Toilette bestelle ich einen doppelten Wodka an der Bar. Der Klang meiner eigenen Schritte dringt mit Verspätung an mein Ohr, um eine halbe Sekunde zurückversetzt, als wäre ich riesengroß und müsste auf der langen Entfernung von meinen Füßen bis zum Ohr die Schallträgheit in Kauf nehmen. Eine kräftige Nase Koks auf dem Klo schraubt mich wieder auf Normalgröße zusammen, und der Weg zurück an den Tisch ist das reinste Vergnügen. Ich trage an jedem Fuß eine Wolke anstelle eines Schuhs. Beim Hinsetzen bleibt mein Grinsen noch einen Moment frei in der Luft stehen, bevor es mir nachrutscht, auf seinen Platz über dem Kinn in meiner Hand, mit Unterarm und Ellenbogen als Stütze darunter.
    Okay jetzt, sage ich aufgeräumt, und was hatte das alles mit Jessie zu tun?
    In den letzten Wochen des Balkangeschäfts, sagt Ross, kam es zu dem Zwischenfall, den du kennst.
    Die erschossene Flüchtlingsfrau, sage ich.
    Ab dann, sagt Ross, waren Jessie und Shershah nur noch mit dem Boot unterwegs. Und das fast jede Woche. Solange die albanischen Grenzen wegen der Unruhen offen waren, gaben wir noch mal alles.
    Er presst seine Lippen zusammen und hält sie eine Weile so, vom Druck werden sie blutleer und blass wie ertrunkene Regenwürmer. Mit seiner Kralle fährt er sich über den Kopf, die beiden verbliebenen Finger ziehen zwei dicke Furchen in sein Haar, in deren Mitte man die Kopfhaut sieht.
    Es lief eigentlich immer gleich, sagt er. Shershah oder wer auch immer nahm von italienischer Seite den Weg in der Rinne der Personenfähren. Die winzigen albanischen Boote kamen von Vlorë herauf und warteten knapp hinter der Dreimeilenzone vor Durrës auf die Übergabe. Ich war meistens auf albanischer Seite dabei. Eines Nachts hockten wir in so einer Nussschale mit einer Regentonne voll Kokain an Bord, und über unseren Köpfen flogen die internationalen Schutztruppen Durrës an. Die See war schwer, es war Kamikaze, sich mit den kleinen Holzdingern da draußen aufzuhalten. Ich ließ trotzdem warten, drei Stunden lang. Jessie und Shershah kamen nicht, und die Funkverbindung war abgerissen.
    Der Wodka kommt, ich trinke ihn aus. Trink niemals Alkohol auf Kokain, singt es in mir, trink niemals Alkohol.
    Den Rest der Nacht, sagt Ross, habe ich im Hotel vor einem Radiogerät verbracht und auf die Nachricht von einem Bootsunglück gewartet. Ich betete, dass die Wasserpolizei sie erwischt hatte. Und nicht die Adria. Ich habe geheult, zu italienischer Schlagermusik.
    Aber beides war nicht der Fall, sage ich.
    Sie hatten sich einfach mit dem Geld abgesetzt, sagt Ross, und waren woanders an Land gegangen. Wahrscheinlich ganz simpel irgendwo bei Genua.
    Er streckt die Hand nach mir aus, ich weiß nicht, ob er mir auf die Schulter klopfen oder meinen Hals fassen will.
    Danach, sagt er, habe ich Jessie nie wieder gesehen.
    Ganz ruhig bleiben, sage ich.
    Weißt du, ob sie in Leipzig meine Briefe gelesen hat, fragt er.
    Hat sie, sage ich, hat sie.
    Ich versuche, im Kopf zu überschlagen, wie viel Geld es insgesamt gewesen sein muss, das sie dabeihatten, und gehe von einer Liefermenge von sechs Zentnern und einem Einkaufspreis von achtzig Mark pro Gramm aus. Ich komme mit den Nullen durcheinander und gebe auf.
    Shershah hat ihr weisgemacht, sage ich, dass sie das Geld brauchten, um gemeinsam nach Grönland auszuwandern.
    Dieser Scheißkerl, sagt Ross. Zu den weißen Wölfen.
    Ja, sage ich, zu den weißen Wölfen.
    Eine Weile schweigen wir und denken an Jessie und das ewige Eis. Der Luftdruck presst uns zusammen, wir sitzen wie zwei alte Schildkröten an den Tisch gekrümmt und starren in die leeren Flaschen zwischen uns.
    Das Geld, sagt er, haben wir wiedergekriegt. Es lag im alten Brunnen im Hof. Jessie hatte nur einen kleinen Teil an sich genommen, den sollte sie ruhig behalten. Den Rest davon hast du ja auch noch in der Galerie abgeliefert.
    Aber was, frage ich, war dann das riesige Problem?
    Jetzt kommt was Verrücktes, sagt er. Aber irgendwie passt es zu Jessie. So war sie eben.
    Irgendwas, sage ich langsam, war mit Computern.
    Ross horcht auf.
    Also vielleicht doch Variante eins?
    Nee, sage ich.
    Einen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher