Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition)
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
Moment lang sitzen wir uns wie Pokerspieler gegenüber, und ich, ich habe absolut nichts auf der Hand. Nicht einmal ein Paar. Nicht mal ein verdammtes Paar.
    So kommen wir wieder zum Anfang zurück, sagt Ross schließlich. Herbert hat lange vor dem Scheiß in Albanien angefangen, unsere Route umzustellen. Über Polen. Dahinter steckt ein unglaublicher Aufwand. Wir hatten alles auf dem Server, Informationsübermittlung, Adresslisten und Bankverbindungen. Aber das ist noch das Geringste. Du musst denen ja erst mal Straßen bauen, um dein Koks drüberfahren zu können. An der Grenze müssen sie wissen, welche Güter sie durchlassen. Man braucht günstige Zwischenlager und Partner in wichtigen Positionen. Das lief alles unter dem großen Dach der EU-Osterweiterung und der neuen Freihandelszonen.
    Und wurde letztlich, sage ich, von Geldern aus PHARE und dem internationalen Währungsfond bezahlt?
    Er überhört das.
    Ich habe in Leipzig, ohne es zu wissen, mitgearbeitet an dem Projekt?
    Frag Rufus, sagt er. Alles, was für uns wichtig war, lag im Netz in einer gesonderten Domäne, auf Unterseiten verteilt. Und Jessie ist da rein und hat abgeriegelt.
    Was heißt das, frage ich.
    Die Fachleute sagen irgendwas davon, dass sie den Root ausgesperrt und sich selbst als einzigen Benutzer eingetragen hat. Den Zugang hat sie mit einem Codewort von vierzehn Stellen gesichert. Es können sowohl Zahlen als auch Buchstaben darin vorkommen. Das ergibt rund sechs Trilliarden Möglichkeiten, und selbst wenn man davon ausgeht, ein Computer könnte eine Million Möglichkeiten pro Sekunde durchprobieren, würde es immer noch etwa 190 Millionen Jahre dauern, bis alle Kombinationen getestet sind. Das heißt also faktisch, dass Jessie die Einzige war, die noch an die Daten rankam.
    Faktisch, sage ich, heißt es das.
    Außer vielleicht Shershah, sagt er, der es bald nicht mehr weitererzählen konnte. Deshalb ist Herbert völlig ausgeflippt, als er von seinem Tod erfuhr.
    Also IHR wolltet ihn lebend, sage ich.
    Wir HATTEN ihn lebend, sagt Ross. Wir haben ihm den Pass abgenommen und danach ist er wie eine Ratte durch Wien gelaufen. Früher oder später wäre er ohnehin zu uns zurückgekommen. Jessie hätte sich beruhigt, einer von beiden hätte den Code rausgerückt. Aber du musstest Shershah unbedingt abknallen.
    Das wiederum überhöre ich. Jessie hätte sich niemals wieder beruhigt, nachdem Shershah sie im Stich gelassen hatte, aber es ist nicht der Moment, um Ross das zu erklären.
    Aber das kann sie niemals allein geschafft haben, sage ich, sie wusste doch nichts von Computern.
    Wer weiß, sagt Ross, man hat Jessie leicht unterschätzt.
    Oder, denke ich, sie wusste einfach immer, wo sie jemanden fand, der ihr half. Ein fast unbezwingbarer Lachreiz überkommt mich, während meine Hand in der Hosentasche nach dem bunten Kugelschreiber tastet, dick wie ein Frankfurter Würstchen. Kein Wunder, dass der arme Tom ein bisschen neurotisch geworden ist von der Angst; kein Wunder, dass er gekommen ist, um mich anzubetteln. Auf seine Art. Sicher hat Jessie ihn bezahlt. Vielleicht hat er es aber auch getan, um ihr zu helfen. Dann habe ich keinen Grund, ihn zu verraten.
    Sie war ein seltsames Mädchen, sagt Ross. Wir haben alle einen Teil von ihr gekannt, ich selbst, Herbert, Shershah und du. Aber nichts passte zusammen.
    Er nickt vor sich hin wie der Spielzeugdackel auf der Hutablage eines Audi 100. Er hat recht. Jessie war ein kleiner versiegelter Kasten neben mir, selbst in Momenten, in denen ich glaubte, ihr weichstes und angreifbarstes Inneres in Händen zu halten. Ein Missverständnis. Man konnte sie nicht kennen, wie man andere Menschen kennt oder einen Baum oder einen Hund. Höchstens so, wie man einen Schwarm Fische kennen kann.
    Ich blase Rauchkringel über den Tisch, und jeder steht stellvertretend für zehn vergehende Sekunden in der Luft, in denen wir nicht sprechen. Die Zeit ist manchmal wie ein zu enges Kleidungsstück, ich kann mich schlecht in ihr bewegen. Als die Zigarette zu Ende ist, nehme ich die Unterhaltung wieder auf.
    Und warum, frage ich, hat sie das gemacht?
    Bist du denn blöd, sagt er, natürlich wollte sie etwas in der Hand haben gegen Herbert und mich. Sie hatte panische Angst, Herbert würde sich rächen wegen des geklauten Geldes, und solange sie den Code zum Computer hatte, fühlte sie sich sicher.
    In dieser kruden Logik erkenne ich sie wieder. Das Prinzip ist ähnlich simpel wie bei der Idee, eine Tüte Geldscheine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher