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Abschaffel

Titel: Abschaffel
Autoren: Wilhelm Genazino
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Der Verkäufer sah, daß Abschaffel unschlüssig war. Er hob sich den Dachshaarpinsel unter die Nase und sagte: Das riecht so schön nach Naphtalin. Abschaffel hielt sich den Pinsel ebenfalls unter die Nase, und obwohl er gar nicht wußte, was Naphtalin war, sagte er: Ahhh, sehr angenehm. Aber immer noch fand er nicht aus seiner Unschlüssigkeit heraus. Der Verkäufer drehte seinen Körper schon halb zur Seite. Also gut, machte Abschaffel, ich nehme den Dachshaarpinsel. Freudig drehte sich der Verkäufer zurück. Darf ich Ihnen noch einen Tip geben? fragte er. Bitte. Der Verkäufer holte aus einem Karton kleine Plastikgeräte heraus. Ich würde Ihnen raten, sagte er, sich einen solchen Aufhänger mitzunehmen. Wozu? fragte Abschaffel. Normalerweise steht ein Rasierpinsel, aber das ist für das Haar nicht gut. Der Pinsel sollte mit den Haaren nach unten hängen. Die meisten Rasierpinsel gehen frühzeitig kaputt, sagte der Verkäufer und hob sogar den Zeigefinger, weil sich, wenn sie stehen, Wasser- und Säurereste der Rasierseife tief im Pinselboden festsetzen und ihn mit der Zeit zerstören. Wenn er aber hängt, tropfen diese Reste heraus. Gut, sagte Abschaffel, ich nehme einen mit. Der Verkäufer packte beides sorgfältig ein, lobte noch einmal Rasierpinsel und Aufhänger und kassierte insgesamt genau 58,50 Mark.
    Zu Hause packte Abschaffel den neuen Pinsel sofort aus, ließ heißes Wasser in das Becken einlaufen, zog sein Hemd aus und begann sich sorgfältig zu rasieren. Er spielte eine Weile mit dem weichen Dachshaar, bevor er wirklich anfing. Ruhig rasierte er sich, und dabei dachte er zum erstenmal ernsthaft an das Büro, an Ajax, an die Kollegen. Er überlegte, wie er sich in drei Tagen, wenn er wieder an seinem Schreibtisch saß, verhalten sollte. Natürlich fiel ihm nichts Besonderes ein. Am besten wäre, dachte er, wenn ich den Eindruck einer leicht kränklichen Empfindlichkeit aufrechterhalten könnte. Davon versprach er sich am meisten Schutz. Aber dann erinnerte er sich an einen früheren Kollegen, an Herrn Zeißberg, der bei den Zeugen Jehovas gewesen war und ebenfalls versucht hatte, mit der Zur-Schau-Stellung von Dünnhäutigkeit in Ruhe gelassen zu werden. Aber diese Rechnung ging leider nicht auf. Zeißbergs Zurückhaltung wurde von den Kollegen als Verachtung und Überheblichkeit aufgenommen, und sie gingen dazu über, ihn ihrerseits zu demütigen und verächtlich zu machen. Ein Lehrling war es gewesen, der eines Tages nicht mehr Herr Zeißberg, sondern Herr Schneißberg zu ihm sagte, und weil Zeißberg zu dieser Verunglimpfung tatsächlich nur überheblich grinste, nahmen bald auch andere Angestellte daran teil, seinen Namen zu verunstalten. So hieß er einmal Fleißberg, dann Reisberg, ein andermal Schleißberg. Und einmal, als er eines seiner religiösen Unterweisungsheftchen auf der Toilette liegengelassen hatte, brachte es ihm ein Lehrling an den Schreibtisch zurück und sagte: Herr Scheißberg, das haben Sie auf dem Klo verloren. Zeißbergs Gesicht zitterte ein wenig, weil diese Demütigung auch ihm zu weit ging, und eine halbe Stunde lang sah es so aus, als würde sich Zeißberg zum erstenmal bei Ajax beschweren. Es war klar, daß der Lehrling fristlos gekündigt worden wäre. Aber Zeißberg tat nichts: Er suchte sich eine andere Stellung. An seinem letzten Arbeitstag verließ er schweigend das Büro, ohne sich auch nur von einem Kollegen zu verabschieden. Das waren Zeißbergs stärkste Augenblicke gewesen.
    Er mußte, soviel war Abschaffel immerhin klar, alles vermeiden, was ihn dazu bringen konnte, aus überstarkem Distanzbedürfnis um so rascher ein Opfer von Kränkungen zu werden. Obwohl er mindestens genausowenig Lust hatte wie Zeißberg, an irgendwelchen Bürokämpfen teilzunehmen. Im Grunde war es auch nicht schwer, nicht in den Kreis derjenigen abzurutschen, über die die anderen lachten. Ein Angestellter durfte sich keinerlei Blößen geben, und er mußte jeden Tag den Eindruck erwecken können, der Herr seines Geschicks zu sein. Er mußte Erschöpfer und Abnehmer einer übergeordneten Vornehmheit sein, die mit dem Leben keine Anstände hatte.
    Abschaffel hatte sich zu Ende rasiert und ließ das Wasser ablaufen. Er spülte den neuen Pinsel aus und hängte ihn in die neue Vorrichtung, die er neben dem Spiegel angebracht hatte. Er zog sich an. Noch immer wußte er nicht, wie er sich am Montag verhalten sollte. Freundlich, aber gedämpft? Oder sollte er ein paar Geschichten aus Sattlach
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